Johannes Erath über seinen Kölner „Faust“„Anders hören dank Corona"

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Johannes Erath im KStA-Gespräch    

Johannes Erath im KStA-Gespräch    

Köln – Herr Erath, Sie mussten Ihre Inszenierung von Gounods Oper „Faust“ unter Corona-Bedingungen erstellen. Haben Sie sehr gelitten? Johannes Erath: Na ja, ich versuche, das Ganze mehr als Chance denn als Katastrophe zu sehen – sonst wird man eh wahnsinnig. Die Chance: Wir müssen unbedingt Theater machen, weil das einfach relevant ist. Es kann in dieser Situation nicht nur um die körperliche, sondern es muss auch um geistige und seelische Gesundheit gehen. Menschen brauchen gemeinsame emotionale Erlebnisse an öffentlichen Orten – auch wenn das mit Abstand und Respekt vor der Lage geschehen muss. Das Theater ist so ein Ort.

Nun gibt es in Köln sogar wieder Präsenzpublikum – erstmals bei der „Faust“-Premiere am heutigen Samstag. Es bleiben aber die hindernden Abstandsregeln auf der Bühne. Ja, aber das merkt man irgendwann gar nicht mehr. Die Bühne im Staatenhaus macht das möglich, hinzu kommt, dass die Menschen gerade in diesem Stück einander nicht wirklich begegnen. „Faust“ ist nicht „Figaro“. So kann man aus der Crux einen Vorteil machen. Und man wird ja auch erfinderisch. Wie kann man ein Fluidum schaffen, ohne dass die Akteure einander berühren? Wir aktivieren eine Kamera, filmische Mittel, wodurch wir ganz andere Möglichkeiten haben.

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Greifen Sie das Thema Corona in Ihrer Inszenierung auf? Vermittelt ja. Mir geht es in der Oper auch um das Thema Sterben – das Sterben Margarethes, Valentins und vor allem auch Fausts – und das hat in diesen Zeiten für viele Menschen naheliegend eine neue Aktualität gewonnen. In der Oper wird oft „Adieu“ gesagt – was im Französischen „Auf Nimmerwiedersehen“ heißt. Sterben hat auch etwas mit Bilanzziehen zu tun: Man resümiert vielleicht in diesem Augenblick sein Leben: Was hat man erreicht, was versäumt? Und das ist in Gounods Oper genau die Ausgangssituation von Faust – er will sich selbst das Leben nehmen, das er immer nur analysiert, aber nicht gelebt hat.

Entgegen der Partitur besetzen Sie die Titelpartie mit zwei Sängern, die den jungen und den alten Faust singen. Hat das mit besagter Bilanzkonstellation zu tun? Ja, unsere Inszenierung bewegt sich im Dualismus einer Welt, in der die Dinge nicht eindeutig zugeordnet werden können, sondern immer auch die andere Seite mit sich tragen. Gounod hat die Partie des jungen neben dem alten Faust zwar nicht in der Partitur angelegt, aber sie schwingt in der Oper immer mit. An welcher Stelle der junge Faust bei uns erscheint, bleibt unsere Überraschung für das Publikum.

„Aus Angst vor dem Tod verpassen wir das Leben“

Aber all das funktioniert auch ohne Corona-Allusionen. Tatsächlich stand diese Planung von Anfang an, wir haben das nicht wegen Corona gemacht. Aber die Pandemie hat neue Sensibilitäten erzeugt, die das Publikum diese Oper vielleicht anders hören und sehen lässt als zu normalen Zeiten. Wir haben doch jetzt diese Lage: Aus Angst vor dem Tod verpassen wir das Leben, das als solches ja ein Risiko ist. Eine absurde Situation.

Wie kommt das szenisch? Es gibt da etwa diesen Chor der Soldaten, die die „gloire immortelle“ beschwören. Wie wir heute wissen, leiden Kriegsheimkehrer vor allem unter Traumata. Da kommt das Thema „verpasstes Leben“ ganz zentral ins Spiel.

Da denkt man an Afghanistan – wie überhaupt Ihre Darlegungen vermuten lassen, dass Sie die Oper nicht im 16. Jahrhundert platzieren. Nein, der Handlungsraum ist das Jetzt, eine Art surreale Realität, die in der Gegenwart verortet ist.

„Faust“ ist eine Oper ohne Gott – obwohl von ihm dauernd die Rede ist und ein „Religioso“-Ton vorherrscht. Wie geht das zusammen? Das hat mit dem erwähnten Dualismus zu tun: Es gibt immer dieses und sein Gegenteil. Wenn ich Mephisto akzeptiere, akzeptiere ich auch Gott, seinen absoluten Gegensatz. Und die Frage, die sich viele in ihrer letzten Stunde stellen mögen – Was kommt danach? –, vermag aller Agnostizismus nicht abzuwehren. Aber die Oper dröselt all diese Gegensätze auf – Eros und Logos, Glauben und Wissen.

„Mephisto ist bei Goundo ein Katalysator“

Trotzdem: Die metaphysische Verankerung der Handlung, die Goethe mit dem „Prolog im Himmel“ setzt, entfällt bei Gounod. Damit hängt auch Mephisto „in der Luft“ ... Das tut er bei uns sogar wortwörtlich. Mephisto ist bei Gounod ein Katalysator, eine Projektion, eine Abspaltung von Anteilen der handelnden Personen. Wobei das Destruktive nicht nur negativ ist. Auch da haben Sie wieder das Prinzip Dualität.

So oder so hat Gounods Oper mit Goethe nicht viel zu tun. Hängt das auch genuin mit der Musik zusammen? Man hat der Musik wiederholt bescheinigt, sie klinge anrührig. Wenn man aber Bilder dagegen setzt, die gar nicht so „süß“ sind, bekommt sie eine Kraft, die eine Tragödie fühlbar macht. Klar, die Musik ist „schön“, aber ich kann doch nichts gegen Schönheit haben wollen.

Empfinden Sie die Oper als typisch französisch? Ja, sicher. Ich kann das vielleicht beurteilen, weil ich viel französisches Repertoire mache und zehn Jahre in Frankreich gelebt habe. Es gibt zwischen der deutschen und der französischen Mentalität einen Graben – was den „Faust“ insofern betrifft, als hier ein deutsches Sujet ins Französische transformiert wurde. Im Französischen wird auch, anders als im Deutschen, mit denselben Wörtern Unterschiedlichstes gesagt, es ist mehrdeutig. Ich versuche, mich in meiner Inszenierung von solchen Ambiguitäten inspirieren zu lassen. Da ergänzen unser Dirigent, François-Xavier Roth, und ich einander wunderbar. Für mich ist Theater auch dazu da, Fragen zu stellen, zu irritieren.

„Ich mag das Melodram sehr gerne“

Das Publikum erlebt eine Uraufführung. Es geht ja nicht nur um die Frühfassung mit Dialogen statt Rezitativen, sondern vielmehr um eine Version, die überhaupt nie auf die Bühne kam, weil sie vor der Uraufführung von 1859 gekürzt und verändert wurde. Wie kam’s? Das war nicht meine Entscheidung, aber ich habe mich sofort darauf eingelassen. Was die Dialoge anbelangt: Ich mag das Melodram sehr gerne, überhaupt auch das Ineinanderfließen der Gattungen, auch ihre Brüche.

Aber es verändern sich auch etliche Nummern – Fausts Cavatine erklingt mit einem später weggelassenen zweiten Teil. Erkennt das Publikum „seinen“ „Faust“ wieder? Sicher nicht ganz. Aber wenn man mit der Erwartung in die Oper geht, alles so zu hören, wie man es seit jeher gewohnt ist, dann kann man enttäuscht werden. Wir haben das Staunen verlernt und sollten es wieder lernen – und lernen wollen.

Das Gespräch führte Markus Schwering

Johannes Erath, 1975 in Rottweil geboren, ist ausgebildeter  Geiger und kam als Assistent von Willy Decker, Nicolas Brieger, Guy Joosten, Peter Konwitschny und Graham Vick  zur Musiktheaterregie. Inzwischen inszeniert  er  an vielen renommierten  Opernhäusern in Europa. In Köln ist er mit „Orpheus und Euridike“, „Aida“ und „Manon“ eingeführt.  Gounods „Faust“ hat an diesem Samstag, 19.30 Uhr, im  Saal I des Staatenhauses Premiere. In der Titelpartie sind Alexander Fedin und Young Woo Kim zu hören.  François-Xavier Roth dirigiert das Gürzenich-Orchester. (MaS)

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