Kölner Taschen-VerlagWarum der Silver Surfer der richtige Comic-Held für die Krise ist

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Doppelseite aus dem Taschen-Band "Silver Surfer"

Doppelseite aus dem Taschen-Band 'Silver Surfer'

Taschen versammelt in einem neuen Prachtband die Abenteuer des Silver Surfers. Kein anderer Marvel-Superheld kann so schön an sich selbst verzweifeln.  

Die Welt ist nicht genug, für den Silver Surfer ist der ganze Kosmos Bühne, hochdramatischer Hintergrund für seine zerquälten Monologe. Er ist Hamlet auf dem Surfbrett. Entfremdet und einsam. Zerrissen zwischen einem gewissenlosen Gott, gegen den er aufbegehrte, und den Menschen im irdischen Jammertal, die ihn einfach nicht verstehen wollen.

Dass zu seinen Gegenspielern ein Nachfahre Viktor Frankensteins und ein Mephisto direkt aus dem Faust-Mythos gehören, überrascht nicht: Der Silver Surfer ist sowohl ein moderner Prometheus als auch gescheiterter Messias. Und auch ein quengelnder Teenager, „mariniert in Selbstmitleid“, wie es der US-Comic-Experte Douglas Wolk in seiner Einführung zum Prachtband des Taschen-Verlages formuliert, der die ersten 18 Ausgaben des großen Tragöden unter den Marvel-Helden nachdruckt.

Marvel-Autor Stan Lee darf seiner Leidenschaft für Shakespeare frönen

Hier ist das galaktische Format von 32 mal 47 Zentimeter mehr als angemessen. John Buscemas Zeichenstil orientiert sich an den klassischen Zeitungs-Strips von Hal Foster („Prinz Eisenherz“), Alex Raymond („Flash Gordon“) und Burne Hogarth („Tarzan“) mit ihren agilen Abenteurern. Doch „Big John“ verleiht seinen Körpern in Bewegung raumgreifende Dimensionen. Ob im Kampf gegeneinander oder allein, in Verzweiflung aufbäumend: Stets drohen sie die Grenzen der Einzelbilder zu sprengen und manchmal tun sie das auch.

Dementsprechend darf Marvels Chefautor Stan Lee auf den „Silver Surfer“-Seiten seiner Shakespeare-Leidenschaft so ungebremst frönen, wie in keiner anderen seiner dutzenden Comicserien: „In all the world, there is no place for me“, deklamiert der silbern glänzende Götterbote im Blankvers.

Doppelseite aus dem Taschen-Band "Silver Surfer"

Ausklappbare Doppelseite aus dem Taschen-Band 'Silver Surfer'

Die Leser, an die sich Lee und Buscema wandten, waren die Kinder der kreativen Hochzeit von Marvel, als der New Yorker Verlag Anfang der 1960er mit Titeln wie „Die Fantastischen Vier“, „Hulk“, „X-Men“ und „Spider-Man“ das Superhelden-Genre revolutionierte. Jetzt hatten diese Kinder ihre Pubertät hinter sich gelassen und fanden sich in der Sinnkrise wieder, wie ganz Amerika, wie die ganze Welt: Die erste Ausgabe von „Silver Surfer — Sentinel of the Spaceways“ erschien im Mai 1968, als in Paris die Pflastersteine flogen. Die herrschenden Verhältnisse geraten ins Wanken, in den USA stirbt ein zweiter Kennedy und die National Convention der Demokraten versinkt in einem Strudel aus Anti-Vietnam-Protesten und Polizeigewalt.

Zweifel am Ist-Zustand der Welt scheinen allenthalben angebracht. „Obwohl sie ein Universum geerbt haben“, philosophiert der Silver Surfer, „besitzen sie nur leeren Sand!“ Nicht die „Power Cosmic“, die Quelle kosmischer Energie, die er nach Belieben anzapfen kann, ist seine wahre Superkraft. Die verbirgt sich auf seiner glatten, versilberten Oberfläche. Der Silver Surfer spiegelt, er reflektiert — zweimal im Monat, zu 25 Cent die Ausgabe — den unruhigen Geist der Zeit. Insofern kommt die Taschen-Ausgabe gerade recht. Marvels Kino-Universum mag im Jahr 2023 den Punkt der Übersättigung überschritten haben, doch die Seiten des „Silver Surfers“, sie sprechen noch zu uns, mit ungebrochenem Sturm und Drang.

Der Reiz liegt dabei weniger in den Storys, die bilden eher den lächerlichen Kontrast zum hohen Ton des Comics, sondern in der geheimnisvollen Figur des Surfers selbst. Andere Marvel-Figuren wurden sorgfältig konzipiert, er taucht plötzlich auf, reitet 1966 auf seinem Longboard durch die Panels der „Fantastischen Vier“. Erfunden haben ihn weder John Buscema, noch Stan Lee. Der hatte seinem Stammzeichner Jack Kirby lediglich den groben Umriss eines Plots skizziert: Die Fantastischen Vier treffen Gott.

Die sogenannte Galactus-Trilogie gilt bis heute als Marvels wichtigste Geschichte, in ihr trifft die Superhelden-Familie auf ein planetenfressendes Überwesen namens Galactus, die Heftchen-Version vom Gott des Alten Testaments. Solch ein Himmelsfürst, argumentiert der Zeichner, sollte sich durch einen Vorboten ankündigen. Es spricht für Kirbys Genie, dass er diesen Herold als Wellenreiter zeichnet. Die Songs der Beach Boys und Bruce Browns Dokumentation „The Endless Summer“ hatten den kalifornischen Surfer zum Sinnbild für die Abkehr der Jugend von der Wettbewerbsgesellschaft der Alten erhoben.

Er gleitet über melancholischen Abgründe hinweg, sehnt sich nach ozeanischen Gefühlen. Und wird doch immer wieder an den Strand gespült. Der Silver Surfer ist ein Actionheld, der um die Vergeblichkeit jeden Handelns weiß.


Taschen-Band "Silver Surfer"

Das Cover des Taschen-Bandes

„Marvel Comics Library. Silver Surfer. Vol. 1. 1968–1970“, Taschen, 706 Seiten, 150 Euro

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