Kölsches LebensgefühlZwischen Lässigkeit und Nachlässigkeit – so tickt Köln

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Dom Luftaufnahme 1

Symbolbild.

  • Alle schimpfen auf Köln, doch die Anziehung der Stadt bleibt ungebrochen. Das kölsche Lebensgefühl fasziniert viele.
  • Doch was genau ist dieses Gefühl? Und woher kommt es?
  • Psychologe Wolfgang Oelsner über die Traditionen kölschen Gefühls.

Köln – Jedes noch so gute Medikament hat Nebenwirkungen. Das ist eine Binsenweisheit. Sie zu akzeptieren und auszuhalten fällt indes schwer, ersehnen wir doch das ausnahmslos Gute. Das ist ebenso legitim, wie es anstrengend ist, die ambivalente Wirklichkeit zu akzeptieren. Die verlangt uns eine Integration guter und böser Wahrheiten ab. Wenn uns das Zwiespältige aber überfordert, greift die Psyche zu einem Trick des Selbstschutzes. „Abwehrmechanismus“ heißt er in der Fachsprache. Die Abspaltung ist eine Variante. Die lässt uns hier nur das Gute, dort nur das Üble sehen; hier das Edle, dort das Verdorbene; hier die Könner, dort die Stümper.

Köln ist bundesweit Projektionsfläche für Schlechtes

Um die Abspaltung nachhaltig zu etablieren, muss das Gute idealisiert werden und für das Schlechte eine Projektionsfläche gesucht werden. Diese Rolle übernimmt im bundesweiten Kollektiv, wenn es um kommunale Verwaltung und Politik geht, bevorzugt Köln. Das ist auch historisch begründet, existierte das alliterierend eingängige Narrativ vom „Kölschen Klüngel“ längst, bevor das damit Gemeinte durch Begriffe wie „Networking“ neutralisiert und veredelt wurden.

Zur Person

Wolfgang Oelsner, geboren 1949, ist Pädagoge, Psychotherapeut und Autor. Sein Interesse gilt auch der Psychologie des Karnevals.

Auch die Pharmaindustrie kennt ihre Rolle als negative Projektionsfläche. Sie weiß um den Applaus, den das Meckern über sie beim Smalltalk findet. Indes kann sie gelassen darüber hinweghören, wollen die Allermeisten sich doch auch weiterhin nicht ohne Narkose operieren lassen. Wenn es ernst wird, wissen die Menschen schon zu unterscheiden zwischen Wirkung und Nebenwirkung. Ernst ist Menschen die Wahl ihres Lebensmittelpunkts. Und da erfreut sich Köln ungebrochen wachsenden Zuspruchs.

Das kölsche Lebensgefühl

Ein Grund mag das von Markus Schwering im Beitrag „Stadt am Pranger“ herausgestellte Niveau der Kölner Musikszene, auch die Ausstrahlung von Schauspiel und Museen sein. Zu Recht machen solche sogenannten Soft Skills die Entscheidung für die Stadt schmackhaft. Erstaunlich ist, dass Menschen von Ratio und Sachlichkeit, Wissenschaftler und Strategen im Begründungspaket ihrer Sympathiebekundung oft auch das irrationalste aller Argumente nennen: das kölsche Lebensgefühl. Gefühle rational zu begründen stößt an Grenzen.

Aber Wirkstoffe des Humus, der sie gedeihen lässt, lassen sich vermuten. Zu denen gehört, dass diese Stadt seit über 700 Jahren eine Stadt der bürgerlichen Selbstverwaltung ist. Seit der Schlacht von Worringen, 1288, war Köln nie mehr Residenzstadt. Mit Demokratie im heutigen Sinn lassen sich Strukturen der Vergangenheit nicht gleichsetzen. Aber einen höfischen Bückling musste man hier nicht machen.

Zu folgen bekommt den Kölnern nicht

Der „Baselemanes vor einer Obrigkeit“ hat hier keine Tradition. Ausreißer wie nach 1933, als man einem Führer folgte, sind den Menschen hier schlecht bekommen. Ein Gemeinwesen ohne dirigistische Leitfigur ist Segen und – nein, nicht Fluch, aber Problem zugleich. Lässigkeit neigt dann zur Nachlässigkeit, Selbstbehauptung zur Selbstgefälligkeit. Oder, um im pharmazeutischen Bild zu bleiben, die positive Wirkung einer selbstbestimmenden Bürgerschaft kennt auch unliebsame Nebenwirkungen.

Tiefenpsychologen würden das Ausbleiben eines symbolischen „Vatermords“ anführen, ohne den das Erwachsenwerden nicht recht gelingen will. Aber das würde hier wortwörtlich zu tief führen. Natürlich kommt ein kindliches Hänneschen gefälliger rüber als ein erwachsener Johannes. Indes ließe man sich eher wohl vom Letztgenannten operieren oder die Statik einer Brücke berechnen.

Übersetzt läuft das auf die so leicht gesagte und so schwer umzusetzende Lebenskunst der Unterscheidung hinaus. Das Hänneschen in sich zu bewahren, ohne dem Johannes die Entwicklung zu verweigern. Und zu wissen, wann wessen Stunde auf welcher Bühne schlägt.

Köln könnte besser werden

Köln hätte nicht seine ungebrochene Anziehungskraft, wenn den Menschen hier diese Unterscheidung nicht jeden Tag zigfach gelänge. Hier werden täglich auf höchstem Niveau Herzoperationen durchgeführt und Organe transplantiert. Kühnste Tragekonstruktionen und komplizierteste Computerprogramme werden ausgetüftelt. Das rechtsrheinische Raumfahrtzentrum forscht auf Champions League Niveau und bildet Männer und Frauen für die Weltall-Liga aus. Literatur- und Musikszene sind weit über dem „hohen C“ angesiedelt.

Indes, das sei eingestanden, liegen längst nicht alle in kommunaler Trägerschaft. Wie könnte die Stadt nun der Dauerhäme im Lande begegnen? Natürlich, indem sie besser wird. Indem sie, wie die Pharmaindustrie, der gesetzlichen wie moralischen Pflicht nachkommt, Nebenwirkungen zu verringern. Und sonst so, im Alltag? Im Fußball unterläuft man den Angriff mit doppelter Ironie. In der nördlichen Nachbarstadt veredelte man das Schimpfwort „Werksverein“ zum Gütezeichen. Und der 1. FC konterkariert – ähnlich wie die 05er in Mainz – den Schmähgesang gegnerischer Fans, nur „ein Karnevalsverein“ zu sein, indem der Club tatsächlich Mitglied im Karnevalskomitee wurde.

Der Selbstachtung kann es aber auch nicht schaden, sich vor Augen zu halten, warum es anderen offenbar gut tut, eine ferne Projektionsfläche fürs Unvollkommene zu finden. Die Bibel hält da einen Satz mit dem Balken im eigenen Auge und dem Splitter im anderen bereit. Wobei „Splitter“ fürs Kölner Auge dann eine doch allzu verharmlosende Bezugsgröße ist.

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