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Koen LenaertsGleichgültigkeit ist der Tod der Demokratie

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Koen Lenaerts, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, spricht bei einer Pressekonferenz.

Koen Lenaerts, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, sprach in Köln 

Koen Lenaerts, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, hielt in Köln einen bedrückend aktuellen Vortrag über die bedrohte Demokratie.

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt nach dem bekannten Diktum des früheren Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. An diese Erkenntnis konnte man sich jetzt beim (bedrückend aktuellen) Vortrag von Koen Lenaerts über die Demokratie in der Europäischen Union im Treppenhaus des Kölner Oberlandesgerichts mehrfach erinnert fühlen. Lenaerts ist nicht nur Professor für Europarecht an der Katholischen Universität Leuven, sondern auch und vor allem Präsident des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, also des obersten Rechtssprechungsorgans der EU. Die Kölner Juristische Gesellschaft hatte ihn anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens eingeladen.

Zurück zu Böckenförde: Dass die Bürger selbst es sind, die der Demokratie durch zivilgesellschaftliches – oder sollte man schon sagen: zivilreligiöses – Engagement ihre Voraussetzungen immer wieder schaffen müssen, wird in diesen Tagen so offensichtlich, wie es in der Vergangenheit nur selten der Fall war. Gleichgültigkeit ist, so Lenaerts, „der Tod der Demokratie“. Bürger-Engagement kann, auf Unionsebene, der EuGH freilich nicht verordnen. Durch seine Rechtsprechung sanktionieren und damit die Demokratie schützen kann er hingegen mit dem EU-Recht unvereinbare Versuche von autoritären Mitgliedsstaaten, die Entfaltung zivilgesellschaftlichen Handelns zu behindern. Das geschieht etwa in Orbáns Ungarn, wo es Nicht-Regierungsorganisationen untersagt wurde, finanzielle Unterstützung aus dem EU-Ausland anzunehmen.

In Europa hat die EU weiterhin mit Akzeptanzproblemen zu tun

Lenaerts demokratietheoretisches Framing der EuGH-Rechtsprechung war leider eine Ansammlung von Binsenweisheiten: Freie und faire Wahlen, Gewaltenteilung, individuelle Freiheitsrechte, Deliberation und Inklusion – Demokratie schützt sich durch weitreichende Minderheitenrechte selbst davor, eine „Tyrannei der Mehrheit“ zu werden –; das alles, von Lenaerts durch Zitate von Arendt über Popper bis Habermas unterfüttert, war sozusagen dem Musterbaukasten entnommen. Die Definition „Die EU ist eine ihrerseits demokratische Union von Demokratien“ wiederum umging etwas nonchalant das kaum zu leugnende Problem des nach wie vor und trotz des Lissabon-Vertrags bestehenden demokratischen Legitimationsdefizits der EU-Institutionen. Und des daraus resultierenden Akzeptanzproblems der EU-Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten.

Interessant wurde es – im Vortrag wie in der folgenden Diskussion – immer dann, wenn Lenaerts die schönen Allgemeinheiten auf konkrete EuGH-Entscheidungen zumal in neuerer Zeit herunterbrach. Die (schwierige, aber begründungsfähige) Maxime „Keine Toleranz für Intoleranz“ etwa fand eine Umsetzung in der Bestätigung des Verbots, das der Rat der EU 2022 gegenüber dem russischen Staats- und Propagandasender „Russia Today“ verhängt hatte.

Die – für eine demokratische Kultur unverzichtbare – Pressefreiheit stärkte der EuGH, indem er Frankreich das Recht zubilligte, eine Klage des spanischen Fußballclubs Real Madrid gegen die Zeitung „Le Monde“ wegen angeblich falscher Doping-Vorwürfe abzuweisen. Diese Klage war mit einer horrenden Schadensersatzforderung verbunden gewesen – es handelte sich also um eine jener „Einschüchterungsklagen“, mit denen bekanntermaßen US-Präsident Trump in diesen Tagen versucht, die Pressefreiheit in seinem Land auszuhebeln.

Wie schwierig die Klärung von Rechtsstreitigkeiten auf EU-Ebene sein kann, verdeutlichte Lenaerts an der länderbezogen unterschiedlichen Handhabung des muslimischen Kopftuches im öffentlichen Dienst: Das strikt laizistische Frankreich verbietet es, Deutschland und die skandinavischen Länder lassen es zu. Die gebotene weltanschauliche Neutralität nehmen beide Lager für sich in Anspruch: die einen, indem sie alle religiösen Bekundungen verbieten, die anderen, indem sie alle zulassen. Ein Beispiel für ein generelles Strukturproblem der EU: dass die Lebenswelten und Rechtskulturen der Mitgliedsländer je nach dem kaum unter einen Hut zu bringen sind.