KommentarBlick zurück im Zorn
Der britische Fotograf Martin Parr ist berühmt dafür, Klischees so lange zu melken, bis sie aussehen wie neueste Einträge in der Skandalchronik des Menschen. Die Reichen sind bei ihm feist und obszön, die Armen verlorene Fälle und Touristen um ihre Sehnsucht geprelltes Herdenvieh. Allerdings gibt es auch für Parr Grenzen des Darstellbaren: Gerade hat er sich öffentlich dafür entschuldigt, das Vorwort zu einem Fotoband mit der „offensichtlich“ rassistischen Darstellung einer schwarzen Frau verfasst zu haben.
Es geht um den 1969 erstmals erschienenen „London“-Bildband des italienischen Fotografen Gian Butturini. In diesem ist auf einer Doppelseite rechts ein Gorilla hinter Käfiggittern zu sehen und links daneben eine erschöpfte schwarze Frau in einer Art Kabine; der Bildausschnitt ist jeweils so eng gewählt, dass beide Figuren wie Gefangene wirken, zumal die Frau vergleichsweise massig ist. Auf Twitter wurde die von Parr, wie er sagt, „übersehene“ Gegenüberstellung als rassistisch kritisiert („Schwarze sind Affen“), es folgten Boykottaufrufe gegen Parrs Stiftung und das von ihm geleitete Fotofestival in Bristol; aus dem Festival zog sich Parr mittlerweile zurück.
Man könnte dies für den normalen Lauf der Dinge halten, ließe sich die Doppelseite nicht auch als Anklage gegen die rassistische britische Gesellschaft lesen. Aus dieser Perspektive erscheint die Situation der abgebildeten Frau so aussichtslos wie die des Zootiers und die Botschaft der Gegenüberstellung lautet: „Für Schwarze ist die Kolonialmacht Großbritannien ein einziges Gefängnis.“ Eine durchaus aktuelle, möglicherweise etwas plumpe, aber schon 1969 durchaus geläufige Botschaft – und eben kein Rassismus.
Seltsamerweise spielt diese ähnlich „offensichtliche“ Bildbetrachtung bislang keine Rolle. Es wird nicht einmal darüber diskutiert, ob Butturinis Doppelseite etwas anderes sein könnte als rassistisch, unter anderem mit dem kuriosen Hinweis, 1969, als der Band erschien, sei Rassismus noch „normal“ gewesen. Tatsächlich war die Toleranz für Rassenhass bei vielen Menschen wohl schon ausgeprägter als heutzutage. Aber es greift zu kurz, die Vergangenheit allein als etwas zu definieren, das durch die Gegenwart zu überwinden ist. Es ist nämlich ein beliebter Irrtum zu glauben, die Brille des Heutigen würde uns zwangsläufig klüger machen. Mitunter trübt sie auch die Sicht.