Komponist Wolfgang Rihm„Unser Bester“ wird an diesem Sonntag 70 Jahre alt

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Karlsruhe – Schon als Teenager schrieb er Lieder, Streichquartette, Orgel- und Orchesterstücke. Als Gymnasiast studierte er bereits Komposition an der Musikhochschule Karlsruhe und legte dort 1972 sein Examen gleichzeitig mit dem Abitur ab. 1974 debütierte der Hochbegabte bei den Donaueschinger Musiktagen, 1978 war er erstmalig Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen. Mit dreißig wird er Präsidiumsmitglied des Deutschen Komponistenverbands, zwei Jahre später Mitglied im Präsidium des Deutschen Musikrats, 1985 Professor an der Karlsruher Hochschule, dann Aufsichtsrat der Gema, Mitglied im Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung sowie vieler anderer Gremien und Akademien.

Im Bereich der neuen Musik könnte eine Karriere nicht steiler sein. Der vor 70 Jahren, am 13. März 1952, in Karlsruhe geborene Wolfgang Rihm ist ein Phänomen. Bis heute schrieb er rund 600 Werke. Nach ersten zwölftönigen Stücken in der Nachfolge Weberns und Bergs befreite er sich zu unmittelbar gestischem, ungezügeltem Ausdruck. Seine Musik wurde schroff, energetisch, häufig forciert bis ins Geräuschhafte. Die frühen Kammermusik- und Orchesterwerke, darunter „Magma“, „Sub-Kontur“ und „Dis-Kontur“ kratzen, fauchen, springen, schlagen und lauern wie wilde Tiere, jederzeit auf dem Sprung von einem Extrem ins andere.

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Die Musik besteht aus nervösen Fieberkurven mit Ausschlägen zwischen Pianissimo und fünffachem Forte, gehetzten Läufen, extremen Lagenwechseln, reflexhaften Zuckungen und drohender Stille. Spielanweisungen lauten „Äußerst heftig“, „aufgeregt“, „starr“, „wild“, „zart“.

Die Werke der 1970er Jahre spiegeln Rihms Ideal einer pathetischen, expressiven, körperlichen Musik: „Nichts ist so sehr physische, erlebbare Kraft und Energie wie Musik“, schreibt er 1978 im Essay „Ins eigene Fleisch (Lose Blätter über das Jungerkomponistsein)“. Sein damaliger Leitspruch lautet: „Ich will bewegen und bewegt sein. Alles an Musik ist pathetisch.“

Sein Plädoyer für „eine undurchschaubare, klare, verwirrte und leidenschaftliche Musik, eine präzise und erstaunte, wie es menschliche Existenz ist“, führt ihn mit dem dritten Streichquartett „Im Innersten“ (1976) zur Romantik von Schumann und Mahler. Sein „inklusives Komponieren“ schließt vergangene Traditionen ein- statt aus, teils polemisch-demonstrativ, teils einfach frei, souverän und rein musikalisch motiviert. Anknüpfungen an Tonalität, Expressivität, Brahms, Richard Strauss, Sibelius und Busoni kritisierten Vertreter von Presse und Avantgarde als rückgewandt.

Durchbruch mit „Jakob Lenz“

Der Durchbruch als Musikdramatiker gelingt Rihm 1979 mit der Kammeroper „Jakob Lenz“. 15 weitere Bühnenwerke folgten. Rihm erhielt von Jugend an Stipendien, Residenzen, Förder-, Musik- und Kunstpreise sowie Aufträge von und für renommierte Solisten, Orchester, Opernhäuser. Auch in Köln stehen seine Werke auf den Spielplänen von Oper, Philharmonie und WDR. Reichlich bedacht wurde er auch mit Orden, Medaillen, Ehrendoktorwürden. Gleich dreimal erhielt er das Bundesverdienstkreuz, zuerst 1989, zuletzt 2014 mit Stern.

Die Frage drängt sich auf, was dieser beispiellose Werdegang über den Komponisten und seine Musik sagt sowie über die westdeutsche Gesellschaft, die diese Laufbahn so sehr förderte? Pünktlich zum 70. Geburtstag des Gefeierten stellt der Musikjournalist Frieder Reininghaus diese Frage in seinem Buch „Rihm: Der Repräsentative“ (Königshausen & Neumann 2021, 307 Seiten).

Der Buchtitel signalisiert, dass es nicht vorrangig um Musik geht. Der Autor sagt wenig über Kompositionstechniken, Formen, Instrumentation, Harmonik, Kontrapunktik. Vorrangig interessieren ihn die „Marktbedingungen und die Gestalter der Subventionsinstitutionen und Märkte“, die Rihm zum Haus- und Hofkomponisten der BRD gemacht hätten. Die Themen lauten „Wirkung und Größe“, „Festredner“, „erfolgreicher Geschäftsmann“, „beseelter Dozent“, „Genießer“ und „prall lebender Tonkünstler“.

Eine Reinkarnation Beethovens?

Das Umschlagfoto zeigt Rihm 1987 wie ein Monument seiner selbst und eine Reinkarnation Beethovens. In der kulturbeflissenen Republik herrsche wie bei keinem anderen Schöpfer neuer Musik Einigkeit darüber, dass Rihm „unser Bester“ sei.

Der Untertitel „Neue Musik in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“ verspricht mehr, als das Buch hält. Zweifellos hat Rihm als Netzwerker und vielfacher Funktionsträger von Ämtern, Auszeichnungen und Beziehungen profitiert. Doch wie genau, belässt der Autor in unverbindlichen Assoziationen. Im Kapitel „Marsch durch die Institutionen“ bezieht er die bekannte Aussage des 26-jährigen „Ich will bewegen und bewegt sein“ mit Biegen und Brechen auf die „kölsche Generalformel für erfolgreiches Netzwerken: Von nix kütt nix“. Statt sachlich zu informieren und Kritik zu üben, polemisiert Reininghaus gegen den Kunsttitan, Olympier, Vielschreiber, Kunstsammler, Gourmet, Besserverdienenden.

Der Komponist ist längst weltbekannt und blieb doch stets bodenständig in seiner Heimatstadt Karlsruhe. Seit etlichen Jahren ist er an Krebs erkrankt – was er mit Fassung trägt und offen thematisiert. Viele Arztbesuche, lange Klinikaufenthalte und Schwäche hemmen seitdem seine Schaffenskraft. Zur Sprache kommt dies auch im neuen Gesprächsband „Alles kommt ans Licht“ (wolke 2022, 71 Seiten) von Lotte Thaler.

Locker geschrieben, leicht zu lesen

Wie die einstige SWR-Redakteurin ist auch die vormalige FAZ-Musikredakteurin Eleonore Büning seit Jahrzehnten mit Rihm befreundet – was Kritik und insistierendes Nachfragen verhindert. Bünings locker geschriebene und leicht zu lesende Biographie „Wolfgang Rihm – Über die Linie“ (Benevento 2022, 344) gibt einen wohlwollenden Abriss über das labyrinthisch vielseitige Werk des damals wie heute polarisierenden Künstlers.

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