LiteraturDie Kultur-Redaktion empfiehlt neue Bücher für den Herbst

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Mieko Kawakami

Die Tage werden kürzer, die Abend länger. Sie brauchen neuen Lesestoff für die Couch mit gemütlicher Decke? Die Kultur-Redaktion empfiehlt sechs neue Romane.

Dieses erste Treffen hatte sich Natsuko irgendwie anders vorgestellt. Der Mann, der ihr da gegenübersitzt, trägt einen ausgeleierten Anzug, seine Stirn ist schweißnass, die Atmosphäre ist von Beginn an angespannt. Das scheint Onda aber nicht zu stören, er redet ohne Punkt und Komma. Und zwar über intimste Details, denn hier lernen sich keinesfalls zwei kennen, die sich eine romantische Liebesgeschichte wünschen. Onda präsentiert sich als möglicher Samenspender, hat sogar ein Zeugnis über die Qualität seiner Spermien dabei: „Mein Sperma ist unschlagbar, glauben Sie mir. Eigenlob stinkt, ich weiß, aber es ist so. Die Zahlen beweisen es.“

Es ist eine von vielen absurden Situationen, die Mieko Kawakami in ihrem Roman „Brüste und Eier“ schildert. Die 1976 in Osaka geborene Schriftstellerin erzählt darin die Geschichte von Natsuko, einer alleinstehenden, kinderlosen Japanerin, die in Tokio am Rande des Existenzminimums lebt und sich fragt, was sie vom Leben erwartet, was die Gesellschaft von ihr erwartet und wie es ihr gelingen kann, herauszufinden, welcher Weg der richtige ist.

Die Autorin

Mieko Kawakami, 1976 in Osaka, Japan, geboren, begann ihre Karriere als Sängerin und Songschreiberin, bevor sie 2007 ihr literarisches Debüt vorlegte. 2008 veröffentlichte sie die Novelle „Brüste und Eier“ – die Grundlage dieses Romans. Hierfür gewann sie den Akutagawa-Preis, Japans wichtigste literarische Auszeichnung, und etablierte sich als eine der bedeutendsten japanischen Gegenwarts-Autoren und Vertreterin einer jungen Autorengeneration.  

Will sie ein Kind? Vielleicht mithilfe eines Samenspenders wie Onda? Und darf sie das überhaupt wollen? Ihre Geschichte teilt sich in zwei Teile. Sie beginnt an einem drückend heißen Sommertag im Jahr 2008. Natsuko ist 30 Jahre alt, sie lebt allein in einem kleinen Appartement in Tokio, hält sich mit Jobs in einer Buchhandlung über Wasser, versucht, Schriftstellerin zu werden. Ihre neun Jahre ältere Schwester Makiko und deren zwölf Jahre alte Teenager-Tochter Midoriko kommen an diesem Tag aus ihrer Heimatstadt Osako zu Besuch. Makiko ist alleinerziehend, arbeitet als Hostess in einer Bar und glaubt fest daran, dass eine Brustvergrößerung der Weg ist, um besser bei den männlichen Gästen anzukommen und somit mehr zu verdienen. Midoriko wiederum ist überfordert von der einsetzenden Pubertät und den Veränderungen, die ihr Köper durchmacht. Mit ihrer Mutter – und auch mit ihrer Tante – spricht sie nicht, kommuniziert nur über kleine Nachrichten in einem Notizblock. Ihre Gedanken rund um das Erwachsenwerden hält sie in einem Tagebuch fest, sie grübelt etwa über die Millionen Eizellen in ihren Eierstöcken: „Was für eine beängstigende, schreckliche Vorstellung! Dass schon vor meiner Geburt in mir die Grundlage für neues Leben existiert. Noch dazu in solchen Mengen!“

Es sind gegensätzliche Welten, die aufeinanderprallen: Auf der einen Seite das junge Mädchen, das Angst vor seiner ersten Periode hat, auf der anderen Seite ihre Mutter, die einem Schönheitsideal hinterherläuft, ohne dessen Absurdität zu hinterfragen. Sie erzählt Natsuko von Mittelchen, die die Brustwarzen aufhellen sollen, weil rosafarbene als attraktiver gelten als die eher dunkleren der meisten Japanerinnen. Natsuko ist irritiert über das Ansinnen der Schwester, dessen Umsetzung sich diese eigentlich gar nicht leisten kann, aber sie stellt es auch nicht ernsthaft in Frage: „Um nach Schönheit zu streben, braucht man keinen Grund. Schön ist gut. Und gut macht glücklich.“

Im zweiten, längeren Teil, der acht Jahre später beginnt, lebt Natsuko noch immer allein. Sie ist zwar umgezogen, aber ihre Wohnverhältnisse sind immer noch bescheiden. Zwar hat sie tatsächlich einen ersten Roman veröffentlicht, der fand allerdings wenig Beachtung. Mit dem Schreiben eines zweiten kommt sie nicht so recht voran, weil sie ein anderes Thema umtreibt. Sie ist nun Ende 30, und sie weiß, dass sie auf die Frage, ob sie ein Kind bekommen möchte oder nicht, bald eine Antwort finden muss. Nur eines ist sicher: Eine Beziehung hat sie nicht und will sie nicht. Sex hatte sie nur mit ihrem Jugendfreund, aber es hatte ihr nicht gefallen: „Sex hatte für mich nie etwas mit Lust oder Sicherheit oder Befriedigung zu tun. In dem Moment, in dem Naruse sich auf mich legte, war ich allein.“

Ein Kind auf natürlichem Wege zu zeugen, kommt für sie nicht in Frage. Deshalb denkt sie über eine Samenspende nach. Doch wie wird es sein, ein Kind ohne Vater aufzuziehen? Und sollte ein Kind nicht wissen, von wem es abstammt? Für Yusa, mit der sie befreundet ist, ist die Sache klar. „Man braucht keinen Partner“, sagt die Schriftstellerin, die ihre Tochter allein großzieht. „Wenn du es auf die Welt bringst, ist es dein Kind. Mit wem du es gezeugt hast, spielt keine Rolle.“

Aber stimmt das? An ihren eigenen Vater hat Natsuko nur flüchtige Erinnerungen. Er war irgendwann nicht mehr da und darüber war sie nicht böse, denn er trank, lungerte nur herum, schlug seine Frau und später auch seine Töchter. Prägend in ihrer Jugend waren nur Frauen – ihre Mutter, ihre Schwester und ihre Oma.

Sie will keinen Vater für ihr Kind. Aber ist das fair? Über Recherchen im Internet lernt sie eine Verein kennen, in dem sich Kinder von Samenspendern zusammengeschlossen haben, die sich dafür einsetzen, dass unter ähnlichen Umständen gezeugte Kinder das Recht haben, zu erfahren, wer ihr biologischer Vater ist. Sie erfährt, was diese Leerstelle im eigenen Leben mit manchen Menschen macht. „Brüste und Eier“ ist ein Roman der abwesenden oder desinteressierten Väter. Interessanterweise ist der einzige Mann, der sich als guter, liebevoller Vater in dieser Geschichte erweist, einer, der biologisch gar nichts mit seinem Kind zu tun hat.

Es ist eine durch und durch patriarchale Gesellschaft, die Kawakami auffächert, Frauen kümmern sich um Haushalt und Kinder, Männer haben das Sagen, obwohl sie meist durch Unfähigkeit oder Abwesenheit glänzen. Aber seltsamerweise begehren die Frauen nicht auf gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Sie nehmen sie eher beiläufig zur Kenntnis. Am drastischsten bringt das eine Bekannte von Natsuko auf den Punkt, wenn sie ihre Mutter als „Arbeitskraft mit Fotze“ beschreibt. Sie hasse sie dafür, dass sie gegen ihren tyrannischen Mann nie aufbegehrte. Es stellte sich sogar heraus, dass die Mutter mit ihm zusammen sein wollte, obwohl er sie schlug und wie ein Dienstmagd behandelte. Es ist eine der wenigen Situationen im Roman, in der eine Frau mit starken Gefühlen, mit Wut, gar Hass auf diese gesellschaftlichen Strukturen reagiert. Ansonsten reagieren die meisten Figuren mit einer großen Beiläufigkeit auf die Verhältnisse, Rollenbilder werden selten in Frage gestellt. Diese Beiläufigkeit greift Mieko Kawakami auch in ihrer Art zu erzählen auf. Natsuko schildert meist eher nüchtern, was um sie herum geschieht, fast wie eine Zuschauerin ihres eigenen Lebens. In ihrem Innern toben die Gedanken, Zweifel, Wünsche, Ängste. Doch nach außen lässt sie diese nur ganz, ganz selten durchdringen. Sie ist eine Einzelgängerin, die nur wenige Menschen an sich heranlässt,die aber dennoch nicht kalt ist. Anders als der etwa unglückliche deutsche Titel „Brüste und Eier“ vermuten lässt, ist dieser Roman selten derb. Mieko Kawakami gelingt es vielmehr, ein detailreiches, faszinierendes Bild des heutigen Japans aus einer explizit weiblichen Sicht zu zeichnen. Es sind gerade die vielfältigen Alltagsbeobachtungen, die auch Leserinnen und Lesern, denen Japan fremd ist, ein tieferes Verständnis der Gesellschaft des Landes ermöglichen. Dabei ist der Ton trotz der oft ernsten Themen nie larmoyant, sondern immer von einem feinen Humor gekennzeichnet. Die einzige Schwäche des Romans ist vielleicht, dass der erste und der zweite Teil völlig unverbunden nebeneinanderstehen. Da werden viele Handlungsfäden, die spannend sind und deren Fortsetzung man sich gewünscht hätte, gekappt. Aber das verzeiht man Kawakami gerne.

Mieko Kawakami: „Brüste und Eier“, deutsch von Katja Busson, DuMont, 496 Seiten, 24 Euro 

Robert Seethaler: „Der letzte Satz“

Ein Abschied ist fast immer auch Anlass, Rückblick zu halten, das Geschehene Revue passieren zu lassen, Erinnerungen zu gewichten. Das gilt erst recht, wenn der größte aller Abschiede, der Abschied vom Leben, bevorsteht. So ist es durchaus plausibel, dass auch der berühmte Komponist und Dirigent Gustav Mahler im Jahr 1911 bei seiner Schiffsreise von New York über den Atlantik nach Europa – vom nahen Tod schon gezeichnet – über sein Leben, seine Arbeit, seine Liebe nachgedacht hat. Zeit dazu hat er, denn als eher introvertierter, sensibler Künstler kann er mit dem gesellschaftlichen Treiben an Bord herzlich wenig anfangen. So sitzt er, historisch vermutlich belegt, zahllose Stunden allein an Deck, beschäftigt mit seiner Gedankenwelt vor dem Hintergrund der eigenen Endlichkeit. Diesen Umstand nimmt der österreichische Bestseller-Autor Robert Seethaler als literarischen Stoff auf und entwickelt daraus seinen Roman mit dem – bewusst mehrdeutigen - Titel „Der letzte Satz“, vordergründig eine Anspielung auf Mahlers 9. und letzte Sinfonie. Dabei geht es nicht um das musikalische Werk Gustav Mahlers. „Man kann über Musik nicht reden“, sagt der Komponist im Roman, denn „sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ Folglich widmet sich der Autor ganz der Person Mahlers, seinen Erfolgen, seinen Zweifeln, seinem Fremdsein in der Welt, deren Bewunderung und Anerkennung er ebenso registriert wie deren Ablehnung und Ausgrenzung gegenüber ihm, dem Juden.

Vor allem die Liebe zu seiner Frau Alma, seinerzeit als attraktivste Frau Wiens verehrt, beschäftigt den körperlich immer schon eher fragilen und nun bald sterbenden Gustav Mahler. Klein und schmächtig, immer schon geplagt von Migräne, Schlaflosigkeit und schwachem Herzen, gelingt es ihm, die 20 Jahre jüngere Alma zu erobern, aber er kann sie nicht halten. Zu den körperlichen Schwächen gesellt sich eine nagende Eifersucht, die ihn plagt. Ihn quält die nicht unbegründete Vermutung, dass Alma nur angesichts des erwarteten frühen Todes überhaupt noch bei ihm bleibt – für ihn ein schrecklich erniedrigendes Gefühl von Hilflosigkeit. Zu den schrecklichen Niederlagen seines Lebens gehört auch, dass von den beiden Töchtern des Paares eine schon als junges Mädchen stirbt, eine Tragödie.

Wirkliche Freude über seine überwältigenden Erfolge als Dirigent und Komponist kann er nicht entwickeln. Für ihn ist Musik etwas Absolutes – und Orchester, selbst die besten der Welt, allenfalls „Musikwerkbediener“. Das Modellsitzen bei dem bedeutendsten Bildhauer seiner Zeit, bei Auguste Rodin, ist ihm nur lästig und auch der Besuch bei Sigmund Freud zu einem therapeutischen Gespräch berührt ihn nicht, bleibt eine wenig prägende Episode in seinem Leben. Es scheint, als sei zwischen Mahler und der Welt eine trennende Scheibe – man sieht, was dahinter passiert, aber man bleibt letztlich unbeteiligt. Das gilt merkwürdigerweise auch ein wenig bei der Lektüre des Romans. Der Funke will nicht so recht überspringen. Natürlich ist Seethaler ein routinierter Erfolgsautor, natürlich ist er wortmächtig. Aber der Mensch Mahler bleibt letztlich fremd und trotz aller unterstellter Gedankentiefe eigentümlich blass. So entsteht der Eindruck, als würde der schwüle Geniekult vergangener Epochen mit mal klugen, mal etwas banalen Sinnsprüchen garniert, wieder auferstehen. Am Erfolg des jüngsten Romans von Robert Seethaler wird das wohl nichts ändern. Aber der Autor konnte es bereits, als er sich in seinen Bestsellern mit unbekannten Figuren beschäftigte, schon besser. Michael Hirz

Robert Seethaler: „Der letzte Satz“, Hanser, 126 Seiten, 19 Euro, E-Book: 15 Euro.

Andreas Izquierdo: „Schatten der Welt“

Thorn in Westpreußen im Jahr 1910. Hier scheint das Leben stehengeblieben zu sein, erst recht, wenn man der Sohn eines verwitweten jüdischen Schneiders ist. Der 13-jährige Carl lebt mit seinem Vater in einer Hinterhofwerkstatt, kaum reicht der karge Lohn zum Leben, den der alte Friedländer für seine Schneiderkünste bekommt. Der Schneider lebt ohnehin mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart. „Weißt du, wie viele Stiche ich früher geschafft habe?“, fragt er den Sohn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und schwärmt: „Ich war der beste Schneider von Riga. Gleich am Domplatz hatte ich meine Schneiderei: Friedländer. Alle sind zu mir gekommen. Deutsche, Russen, Letten, Juden, Christen. Alle sind sie zum Friedländer.“ Das ist lange her. Heute näht er in Thorn Beerdigungsanzüge, und zum Abendessen gibt es jeden Tag Kartoffeln. Eindringlich schildert Andreas Izquierdo in seinem opulenten Historienroman „Schatten der Welt“ die Lebensverhältnisse im Westpreußen der Vorkriegsjahre. Zum Geburtstag des Kaisers donnern im Kasernenhof von Thorn die Haubitzen, während der Bürgermeister ein Loblied auf Ihre Majestät singt. Auf den Ländereien der Großgrundbesitzer schuften Tagelöhner zehn, zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn. Auch Carl und sein Vater werden eines Tages auf das Gut der Familie Boysen bestellt. Sie, die jeden Abend gemeinsam musizieren, sollen während eines Festes aufspielen, erst in den Morgenstunden endet ihr Engagement. „Vaters vorsichtiger Hinweis, dass noch ein Lohn ausstehe, konterte Boysen mit einer knappen, wegwerfenden Bewegung: Er solle gefälligst nächste Woche kommen. Er, der Hausherr, sei müde, und Vater solle seine jüdische Gier nach dem Geld zügeln.“

Es gibt nur wenige in Thorn, die aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse. Einer davon ist Carls Freund Arthur, ein Klotz von Mensch schon mit 14 Jahren. Auch er stammt aus ärmlichen Verhältnissen, und sein Lebensziel ist es, einmal ein reicher Mann zu sein. Dafür scheint ihm keine Idee zu abwegig. Gemeinsam drehen die beiden Freunde den Bewohnern von Thorn „Halleysche Gasmasken“ an, „die neueste Erfindung der berühmten Charité“. Beteiligt an dem gewagten Unternehmen: die Lehrertochter Isi, eine Rebellin auch sie, deren Einsatz für die Rechte der Frauen sie wenige Jahre später ins Gefängnis bringen wird.

„Schatten der Welt“ ist nicht nur ein gut recherchierter Historienroman – er ist auch die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft, die selbst die Stürme des Ersten Weltkriegs übersteht. Intensiv schildert Izquierdo die Schrecken eines vier Jahre währenden Gemetzels, das in Europa Millionen Menschen das Leben kostet.

Auch Carl und sein Freund werden „ins Feld“ berufen. Arthur als Soldat, der selbst dort die Willkür der Gutsbesitzerfamilie Boysen zu spüren bekommt, Carl als naiver Kriegsfotograf, der mit seinen Filmen und Fotos von heroischen deutschen Soldaten zur Verherrlichung eines grausamen und längst verlorenen Krieges beiträgt.

Izquierdo schildert eine Welt, die schon lange vor Beginn des Ersten Weltkriegs zum Untergang verurteilt ist. Seine Protagonisten Carl, Arthur und Isi sind die Vorboten einer neuen Zeit, die die Zwänge und das Gedankengut des 19. Jahrhunderts abstreifen wie eine lästige, zu eng gewordene Haut. Es gibt viele berührende Szenen in diesem Buch, andere, die vielleicht ein wenig plakativ geraten sind. Den Gesamteindruck schmälern sie nicht: ein gutes und lesenswertes Buch. Petra Pluwatsch Andreas Izquierdo: „Schatten der Welt“,  DuMont, 540 Seiten, 16 Euro, E-Book: 12 Euro.  

David Grossmann: „Was Nina wusste“

Goli Otok ist ein furchtbar harmloser Name für einen Ort, in dem Tausende gefoltert wurden und Zwangsarbeit in den Steinbrüchen verrichten mussten, wobei sie oftmals elend umkamen. Die ehemalige Gefängnis-Insel dient heute Touristen als symbolischer Ort für die Verbrechen Titos als Diktator in Jugoslawien. Mitten in einem heraufziehenden Sturm legen auch Vera, Nina und Gili, die drei Hauptfiguren in David Grossmanns jüngstem Roman „Was Nina wusste“, am Ufer der kargen Insel in der kroatischen Adria an. Doch die Frauen aus Israel verbinden mit ihrem Besuch viel mehr als nur historisches Interesse: Goli Otok ist Ursprungsort des Traumas, der die drei Generationen von Frauen schwer belastet und zerrissen hat.

Denn die im Roman bereits hochbetagte Vera, 1918 als kroatische Jüdin geboren, ist 1951 von der jugoslawischen Geheimpolizei unter Tito verhaftet worden. Ihr serbischer Mann begeht in der Zelle Selbstmord, Vera wird in das Umerziehungslager verbannt, wo sie Jahre lang unter entsetzlichen Bedingungen schuften und leiden muss: So muss sie Tag für Tag in sengender Sonne einem Setzling als lebender Schatten dienen, ohne Schutz und fast ohne Wasser. Eines Tages dann wird sie ohne jegliche Begründung befreit.

Ausgangspunkt des Romans ist ein Kibbuz in Israel. Dorthin ist Vera gezogen, nachdem sie das Lager überlebt hat. Ihr gelingt nach dem Horror ein neues Leben, sie heiratet den soliden Witwer Tuvia. Mit im Schlepptau hat Vera ihre sichtlich traumatisierte jugendliche Tochter Nina. Diese wird mit Tuvias Sohn Rafael eine leidenschaftliche Nacht verbringen, um dann für viele Jahre spurlos zu verschwinden. Als Rafael seine große Liebe Nina nach langer Suche endlich wiederfindet, entsteht aus ihrer Verbindung ein gemeinsames Kind: Gili. Doch dann verschwindet Nina erneut, verlässt ihre kleine Tochter. Aus der Perspektive von Gili wird der Roman erzählt. Als ihre Großmutter Vera 90 Jahre alt wird, entscheidet sich die 39-Jährige, einen Film über sie zu drehen und mit der Oma sowie ihren Eltern, Nina und Rafael, auf die Gefängnisinsel zu fahren. Erst vor Ort kommt das dunkle Geheimnis Veras ans Licht: Damals wurde sie vor die Wahl gestellt, mit ihrer sechsjährigen Tochter Nina in Freiheit leben zu können, indem sie ihren toten Mann öffentlich fälschlich als Stalin-Anhänger und Verräter an der jugoslawischen Sache bezichtigte. Doch sie lehnte diesen Verrat ab und entschied sie sich für das Lager. Damit aber auch gegen ihre Tochter Nina, die mehrere Jahre lang der Verwahrlosung anheim gegeben war und ein tragisches Leben führte. Nina, von ihrer Mutter im Stich gelassen, wird später ihre Tochter Gili verlassen. Geschichte wiederholt sich.

So beeindruckend Grossmann die Lebensgeschichte von Vera erzählt, die in der 2015 verstorbenen und in Jugoslawien sehr bekannten jüdischen Frau Eva Panić-Nahir übrigens ein reales Vorbild hat, so virtuos er die Zeitebenen miteinander verknüpft: Vollendet gelingt ihm sein Roman nicht. Nina wirkt in ihrer schönen, eiskalten Engelhaftigkeit zu reißbretthaft gezeichnet: Sie muss reihenweise „Stecher“ flachlegen – weil sie sich selbst nicht lieben (lassen) kann. Am Ende bekommt sie Demenz – um ihr einsames Leben zu vergessen. Und dass sich ein jahrzehntelang schwelender Konflikt innerhalb einer kurzen Reise praktisch auflöst, ist auch ein dramaturgischer Kniff zu viel, um glaubhaft zu sein. Was Grossmann, der große israelische Erzähler, in „Was Nina wusste“ aber erneut bewegend zu erzählen weiß: Der Krieg macht schreckliche Dinge mit Menschen. Es ist wichtig, wieder und wieder daran zu erinnern.

Sarah Brasack

David Grossmann: „Was Nina wusste“, deutsch von Anne Birkenhauer, Hanser, 352 Seiten, 25 Euro, E-Book: 19 Euro.

Charles Lewinsky: „Der Halbbart“

Das glauben wir dem Sebi aufs Wort: „Wenn man einmal ins Erzählen kommt, fällt einem immer noch mehr ein, dagegen kann man nichts machen.“ Der Ich-Erzähler in Charles Lewinskys Roman „Der Halbbart“ serviert uns eine Geschichte nach der anderen. Was wir da alles erfahren, fügt sich zu einer großen Erzählung. So intensiv ist das Vergnügen, dass der Leser immer langsamer liest, weil er nicht akzeptieren will, dass es schon bald mit diesem Erzählen vorbei sein soll. Dabei hat das Buch stolze 680 Seiten.

Eusebius, den alle Sebi nennen, ist 13 Jahre alt. Er lebt zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf in der Talschaft Schwyz, nicht weit entfernt vom mächtigen Benediktinerkloster Einsiedeln. Aus Sebis erfrischend naiver Perspektive, wird von Entbehrungen und Gewalt, Gottesfürchtigkeit und Aberglaube, Egoismus und Nächstenliebe erzählt. Mittendrin agieren viele eindrucksvolle, auch widersprüchliche Figuren. Darunter ist der Halbbart des Romantitels. Ein lebenserfahrener und medizinisch versierter Dorfbewohner, der wegen eines Unrechts auf Rache sinnt. „Angst habe er in diesem Leben keine mehr übrig“, sagt er dem Sebi. Mehr als totschlagen könne man ihn nicht – „und da sei ihm schon bedeutend Schlimmeres passiert.“

Sebi weiß, dass es bei ihm nicht reicht zum Soldaten, auch nicht zum Mönch und nur bedingt zur Feldarbeit. Aber welche Rolle soll er im Leben einmal einnehmen? Eines Tages weiß er es: Er will dem Teufels-Anneli nacheifern, das als Erzählerin auf Tournee geht und im Programm „Klassiker“ und Novitäten präsentiert. Mit Geschichten, davon ist Sebi überzeugt, lasse sich vieles am besten beschreiben. Und dem Teufels-Anneli reicht’s, um satt zu werden. Dann könnte es doch auch bei ihm klappen. Charles Lewinsky fesselt seine Leserschaft mit Tragischem und Poetischem, mit Witz und Spannung, auch mit Erhellendem über eine ferne Epoche. Eine Geschichte unter Sebis 1001 Geschichten ragt heraus. Darin geht es um den Überfall der Landbevölkerung auf das Kloster Einsiedeln. Auslöser war der sogenannte Marchenstreit über die Rechtmäßigkeit von Grenzziehungen. Man kann es auf der Internet-Seite des Klosters Einsiedeln nachlesen: „Politische Wirren fügen dem Gotteshaus großen Schaden zu. Besonders zu erwähnen ist der sogenannte Marchenstreit mit den Landleuten von Schwyz, welcher in einem Überfall auf das Kloster und der Entführung der Mönche nach Schwyz in der Dreikönigsnacht des Jahres 1314 gipfelt.“ Das Kloster beruft sich im Roman auf Urkunden, deren Echtheit ebenda angezweifelt werden.

Was ist wahr und was ist falsch? Dieser Frage geht Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, in vielen Varianten nach. Sebi selbst ist ein kritischer Zuhörer. Er weiß: Für wahr wird auch mal das gehalten, was nichts mit den Tatsachen zu tun hat. Nur allzu oft wollen die Zuhörer glauben, was ihnen erzählt wird. Zumal dann, wenn ihre Sache in ein strahlendes Licht gestellt wird - da nicken sogar diejenigen zustimmend, die es selbst ganz anders erlebt haben. Dass man bei der Lektüre solcher Passagen auch an das trumpisierte Amerika denken muss, liegt nahe. Das Hohe Mittelalter ist in diesen Lesemomenten nur einen Wimpernschlag von der Gegenwart entfernt. Die Kunst des Erzählens wird hier kritisch beleuchtet und hinreißend gewürdigt. Das ist ein Fest und eine Freude. Die Wette gilt: Kein Roman wird in diesem Jahr so viele kraftstrotzende Geschichten erzählen wie „Der Halbbart“ von Charles Lewinsky.

Martin Oehlen 

Charles Lewinsky: „Der Halbbart“, Diogenes, 688 Seiten, 26 Euro, E-Book: 23 Euro.

Ulrike Draesner: „Schwitters“

Im Mittelpunkt des neuen Romans „Schwitters“ von Ulrike Draesner steht der Schriftsteller und bildende Künstler Kurt Schwitters, von dem man heute vor allem das Gedicht an Anna Blume kennt, über dessen Leben man aber sehr wenig weiß. Es steht im Zeichen von Flucht und Vertreibung, Ulrike Draesners Thema schon im vorhergehenden Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Dort ging es um die eigene Familiengeschichte, hier geht es um ein Künstlerschicksal im Exil.

Schwitters ist 49 Jahre alt, als er 1937 vor den Nationalsozialisten, die seine Kunst als „entartet“ ächten, nach Oslo flieht, mit seinem Sohn Ernst, aber ohne seine Frau Helma. Sie schickt ihm Arbeitsmaterialien und Nahrungsmittel in seine norwegische Hütte, führt die Gestapo in die Irre und hält die Stellung, bis ein Bombenirrläufer ihr Haus und den zurückgelassenen „MERZbau“, Schwitters' größtes Werk, zerstört. Schwitters selbst ist da längst – nach der Flucht aus dem 1940 besetzten Norwegen – in London, künstlerisch verkannt, unter Wert verkauft, noch nicht einmal im Besitz der eigenen Bücher. Aber eine neue Frau ist an seiner Seite, halb so jung wie er, Edith Thomas, von ihm ebenso liebevoll wie scherzhaft „Wantee“ genannt, weil er sich doch, neben dem Bier, so gerne Tee wünscht. Schwitters schreibt nicht mehr auf deutsch, das Englische wird sein bevorzugtes Ausdrucksmedium, und dass dieses Exil der Sprache in Draesners Roman so wunderbar und reichlich mit Wortspiel und Sprachwitz gewürdigt wird, zeugt von der Empathie der Autorin für jene spezielle Form des Dadaismus, für die Schwitters mit seinen sprachmusikalischen Experimenten und seinem ungewöhnlichen „Paradoxdenken“ stand. Auf der Schattenseite der englischen Jahre stehen einjährige Internierung, Fremdsein, Hunger und Krankheit. Schwitters war Epileptiker. 1944 war er, nach einem Gehirnschlag, zeitweise blind. Draesners Roman erzählt, wie Schwitters damit klar kam, dass er im Exil ein Künstler ohne Publikum, ohne Werk, ohne Pass war. Seine Heimat aber war sein Werk, der MERZbau, den er in im englischen Lake District zum dritten Mal in Angriff nahm.

„MERZ“, das ist Schwitters' ureigenes Kunstwort. Es ist angeblich aus einer Silbe der „Commerzbank“ gefallen und meint eine Kunst, die sich frei weiß von moralischer oder politischer Bevormundung und auf einen Humor baut, der zutiefst menschenfreundlich ist. Der „MERZbau“ ist eine aus Treibgut und Müll gebildete Collage, Höhle, begehbare Skulptur, „ein Zuhause, verzerrt, erfunden, verschönt“, wie es einmal heißt. Um ihn und Schwitters' Erbe entbrennt nach dem Tod des Künstlers ein Streit zwischen Ernst und Edith.

Erzählt wird „Schwitters“ aus der Perspektive des Künstlers selbst, aber auch aus Helmas und aus Ernsts Sicht. Allein schon deshalb wäre es verkürzt, Ulrike Draesners Roman nur als Künstlerbiografie zu lesen. Sicher: Der Leser wird in ein sehr bewegtes und bewegendes Leben geführt, das sich immer wieder der Zumutungen des Krieges erwehren muss. Aber in „Schwitters“ steckt mehr als das. Ulrike Draesner hat einen eindringlichen und fabelhaften Migrationsroman geschrieben. Sie erzählt von einem deutschen Leben und einem englischen Leben, die sich im Exil verkreuzen. So ist eine faszinierende epische Collage über Weggehen ohne Ankommen, über Fremdheit ohne Zuhause entstanden, ein, wenn man so will, vielleicht neuer MERZbau der Literatur, in dem man sich nicht verliert, sondern vieles findet. Wie zum Beispiel die Inschrift auf Kurt Schwitters' Grabstein (er hat zwei, in England und in Hannover): „Man kann ja nie wissen.“

Michael Braun  

Ulrike Draesner: „Schwitters“, Penguin Verlag/ Random House, 480 Seiten, 25 Euro, E-Book: 19,99 

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