Ein schreibender MannMit Martin Walser verlässt uns einer der bedeutendsten Nachkriegsliteraten

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Der Schriftsteller Martin Walser, aufgenommen kurz vor seiner Lesung.

Martin Walser ist imAlter von 96 Jahren gestorben.

Ein schreibender Mann Streitbar bis ins hohe Alter: Ein Nachruf auf Martin Walser, den vielleicht letzten deutschen Großautor.

Ein liebender Mann. Ein fliehendes Pferd. Ein sterbender Mann. Ein springender Brunnen. Die Titel von Martin Walsers Romanen folgen einem Muster. Der Autor selbst war mit Haut und Haaren zuallererst: ein schreibender Mann. Nun ist der Schriftsteller im Alter von 96 Jahren gestorben. Sein Vorlass wurde bereits ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach aufgenommen. Walser war der vielleicht letzte deutsche Autor, dem die Vorsilbe „Groß“ wie eine zweite Haut notwendig anhaftete.

In seinen Tagebüchern von 1979 bis 1981 heißt es: „Wenn einer schreibt, bis er stirbt, wenn er sich unmöglich benimmt, benimmt er sich richtig.“ Und er hat sich daran gehalten. Noch in den letzten Jahren setzte sich Walser literarisch mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf zwischenmenschliche Beziehungen auseinander, der Roman „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ (2018) handelt von einem Mann, der in einem Webblog Nähe sucht.

Walser war einer der bedeutendsten Vertreter der Generation der Nachkriegsliteraten

Zu seinem Selbstverständnis gehörte auch, sich einzumischen. Streitbar bis ins hohe Alter, schlug Walser in seinem Roman „Ein sterbender Mann“ (2016) vor, jeder Bürger möge einen Flüchtling aufnehmen, in Reden geißelte er Einsätze der deutschen Bundeswehr in Syrien und Afghanistan. Die Kommentierung des Weltgeschehens – Fehlgriffe eingeschlossen – zeichnete diese Generation der Nachkriegsliteraten aus, die mit Martin Walser einen ihrer bedeutendsten Vertreter verloren hat. Mit Siegfried Lenz, Günter Grass und Heinrich Böll prägte der Hutträger vom Bodensee das alte Westdeutschland und danach die vereinte Bundesrepublik.

Selbst ein halbes Jahrhundert nach der Auflösung der legendären Schriftstellervereinigung Gruppe 47, deren häufiger Gast Walser war, behielt die Stimme des Autors Gewicht. Sein Biograf Jörg Magenau schreibt, der Autor habe vom ersten bis zum letzten Buch eine „Chronik der Empfindungsgeschichte der Bundesrepublik“ verfasst. Einen Schriftsteller wie ihn, dessen Name über viele Jahrzehnte, politische Umbrüche und literarische Moden hinweg mit einem Raunen ausgesprochen wurde, gibt es nur selten. Freilich waren Walsers Thesen alles andere als unumstritten.

Kommentierung des Weltgeschehens – Fehlgriffe eingeschlossen

„Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“ Dieser Satz aus seiner skandalösen Paulskirchenrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 brachte dem Schriftsteller den Ruf eines geistigen Brandstifters ein. Dieser verfestigte sich 2002 mit dem Roman „Tod eines Kritikers“, der eine der wichtigsten Feuilletondebatten des jungen Jahrtausends auslöse. Rezensenten glaubten darin antisemitische Klischees zu erkennen.

Walsers Protagonist wurde zudem als Karikatur von Marcel Reich-Ranicki interpretiert. Dieser Lieblingsrivale von Walser hatte über dessen Roman „Jenseits der Liebe“ (1976) geurteilt, keine einzige Zeile sei lesenswert. Walser fühlte sich missverstanden. In dem Roman „Der Augenblick der Liebe“ (2004) verarbeitete er diese Enttäuschung literarisch: Ein Vortrag des deutschen Protagonisten über den französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie und dessen Kritik des Gewissens wird von den Zuhörerinnen und Zuhörern als unerhörter Versuch eines Deutschen verstanden, sich von seiner historischen Schuld reinzuwaschen. Die These des Wissenschaftlers, dass im wahren Gebrauch der Freiheit das Schuldgefühl wenigstens für Augenblicke verschwinde, wird politisch gelesen und skandalisiert.

Eine Respektfigur ohne Throngebaren – noch im hohen Alter neugierig

Die deutsche Schuld war für Walser, der 1964 als Zuhörer den Frankfurter Auschwitz-Prozess verfolgte, ein Lebensthema. Das belegen Auszüge aus Romanen, Theaterstücken und Essays, die Walser 2014 seiner Sammlung über den jiddischen Dichter Sholem Yankev Abramovitsh beilegte. Für die Paulskirchenrede entschuldigte er sich erst 2015. In einem Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagte er später: „Ich habe überhaupt nicht an jüdische Zuhörer gedacht, sondern an Walter Jens oder Günter Grass, die gesagt haben, die deutsche Teilung sei eine Strafe für die deutschen Verbrechen. Hätte ich damals schon Abramovitsh gelesen, wäre mir bewusst gewesen, dass jüdische Zuhörer meine Rede anders verstehen müssten als nicht jüdische. Ich war damals nicht empfindlich genug für die Leidensqualität des jüdischen Volkes.“

Im persönlichen Gespräch wirkte der Mann mit den markanten Augenbrauen noch im hohen Alter neugierig. Er forderte das Gegenüber zu scharfsinnigen Scharmützeln heraus und befragte Vertreter jüngerer Generationen ohne Scham nach den Spielregeln des Internets. Eine Respektfigur ohne Throngebaren, so wie die wahre Noblesse des Intellekts ohne Überheblichkeit auskommt. Vom Lob auf die gerade in seinem Münchner Stammrestaurant genossenen Rösti mit Lachs zu einem Exkurs über den Philosophen Sören Kierkegaard waren es bei Walser nur zwei Gedankensprünge.

Ich schaue nicht hin, wenn das Leben an mir vorbeigeht. Ich will das Leben, das an mir vorbeigeht, nicht sehen.
Martin Walser, in „Mein Jenseits“ (2010)

Genauso verquickte er auch in seinem Werk Sinnlich-Handfestes und Geistig-Intellektuelles. Walsers virtuose Sprachkünste zeigen sich in brillanten Sätzen wie „Ich schaue nicht hin, wenn das Leben an mir vorbeigeht. Ich will das Leben, das an mir vorbeigeht, nicht sehen“ (aus „Mein Jenseits“, 2010). Immer wieder verortete Walser sich selbst als Künstler, am deutlichsten in dem Roman „Die Inszenierung“ aus dem Jahr 2013. Der Protagonist, ein „mit Prominenz gepanzerter Regisseur“, ist unschwer als Alter Ego des Verfassers zu erkennen. Walser und seine Figur begreifen beide jedes ihrer Kunstwerke als öffentliches Selbstgespräch. Jener Regisseur leidet unter einer „Immunschwäche der Seele“, jede noch so flüchtige Affäre empfindet er als Schicksalsschlag.

Diese Irrwege der Liebe beschritt Walser als Literat immer wieder. Oft haben seine Paarungen eine anrüchige Aura, etwa im Roman „Ein liebender Mann“ (2008) über die Zuneigung des 73-jährigen Goethe zur 19-jährigen Ulrike von Levetzow. Walsers Altherrenfantasien wirkten in Zeiten von #MeToo zunehmend aus der Zeit gefallen, die hochrutschenden Röcke aus „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ (2018) wurden von der Kritik belächelt. Auf die Spitze getrieben hat Walser das Schmachten in „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung. Legende“ (2019). Darin will ein verliebter Lehrer die Tochter seines Vermieters zur Heiligen erklären, der Autor verschneidet religiöse und erotische Ekstase. Beim Lesen mischt sich Fremdscham mit dem Respekt vor einem Schreiber, der seinem Thema den Zeitläuften zum Trotz treu blieb.

Dreiecksverhältnisse prägten nicht nur seine Literatur

Erhabenes und Absurdes mischen sich seit jeher in Walsers literarischen Beziehungsanalysen. Seine zum Schulstoff gehörende Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978) handelt von einer verhängnisvollen Ménage-à-quatre. So wie der Protagonist Helmut als Hobbyornithologe seine Vögel beobachtet, so beäugte auch der Autor die merkwürdige Spezies Mensch mit faszinierter Präzision und einzigartigem Erzählstil. Dreiecksverhältnisse prägten nicht nur seine Literatur: 2009 offenbarte der Journalist Jakob Augstein, dass Martin Walser sein leiblicher Vater sei. Augsteins rechtlicher Vater, der „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein, war ein Freund des Schriftstellers.

Vater und Sohn veröffentlichten 2017 gemeinsam den Gesprächsband „Das Leben wortwörtlich“, eine Annäherung über die Sprache. „Weil wir in Wirklichkeit viel zu wenig gemeinsame Lebenszeit verbracht haben, war es sinnvoll, ein solches Frage-und-Antwort-Spiel zu betreiben“, kommentierte der Autor im RND-Interview. Er hat mit seiner Ehefrau Katharina vier Töchter, die selbst zu festen Größen des Literatur- und Schauspielbetriebs geworden sind. Walsers Vater war Wirt und Kohlenhändler, seine Mutter stammte aus einer alemannischen Bauernfamilie.

Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit

Am 24. März 1927 wurde Martin Johannes Walser in Wasserburg am Bodensee geboren. Von 1944 bis 1945 war er Soldat der Wehrmacht, nach Kriegsende studierte er in Regensburg und Tübingen Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Er promovierte über Franz Kafka und arbeitete bis zur Veröffentlichung seines Debütromans „Ehen in Philippsburg“ 1957 beim Süddeutschen Rundfunk.

In seinen Texten hat sich der Autor immer wieder mit der eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt. In „Ein sterbender Mann“ heißt es: „Er neigt sich über seine Abwesenheit und trachtet nach ihrem Ton.“ Für schwermütige Gedanken erfand Walser ein Alter Ego namens Meßmer, dem er drei abgründige Aphorismensammlungen widmete. Das Leiden des Künstlers an sich selbst erscheint hier wie eine Autoimmunkrankheit. In „Meßmers Momente“ (2013) notierte er: „Ich bin die Asche einer Glut, die ich nicht war.“ „Existenzstenogramme“ nannte Walser dieses Zettelkasten-Genre.

Andere müssen das Altern ungesagt ertragen. Daran will ich nicht denken. Die sind viel schlimmer dran. Das Geschriebene ist aber immer viel schöner als das, was wirklich passiert.
Martin Walser

In seinem Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ (2017) äußert er seinen „Wesenswunsch, zu verstummen“, und zugleich die Unfähigkeit dazu: „Ich bin ein Blatt Papier, auf dem noch nichts steht. Wenn ich das NOCH hätte weglassen können, wäre die Lüge weniger krass gewesen.“ Zwischen Lyrik und Essay changierend, begab sich Walser in seinem Spätwerk auf die Suche nach letztgültigen Dingen. „Und die Blätter tanzen im Wind. Wissen nicht, dass sie am Fallen sind“, heißt es melancholisch in „Spätdienst“ (2018) und in „Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist“ (2021) formuliert er gleichsam eine Aufforderung an sich selbst: „Du musst den Worten kündigen.“

Der Weisung nachgekommen ist er nicht, wohl weil das Schreiben ihm über die Fallstricke des Alterns hinweghalf, wie er im Gespräch mit dem RND sagte: „Andere müssen das Altern ungesagt ertragen. Daran will ich nicht denken. Die sind viel schlimmer dran. Das Geschriebene ist aber immer viel schöner als das, was wirklich passiert.“ Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist, das sei die Urformel für das Schreiben. Am Ende von Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ entpuppt sich der angebliche Mord als Finte des Rezensenten, der ungestört mit seiner Geliebten Urlaub machen wollte und deshalb seinen Tod nur vortäuschte. Walser würde es gefallen, wenn man ihm ähnliche Fluchten unterstellte. (rnd)

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