Monika Hauser über sexualisierte Gewalt„Überlebende Frauen und Mädchen leiden sehr lange an den Folgen“

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Monika Hauser von Medica Mondiale

Monika Hauser von Medica Mondiale

Die Organisation „Medica Mondiale“ hilft weltweit betroffenen Frauen in Kriegsgebieten. Ein Gespräch über männliche Macht und weibliche Scham.

Monika Hauser hat 1993 „Medica Mondiale“ in Zenica und Köln gegründet. Die Organisation hilft von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen in Kriegs- und Krisengebieten. Sie ist für ihre Arbeit unter anderem mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden.

Frau Hauser, zwei Jahre dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bereits. Wird auch in diesem Konflikt sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt?

Monika Hauser In nahezu allen Kriegen findet sexualisierte Gewalt statt. Diese kann als Teil der Kriegsstrategie auch funktionalisiert werden und soll dann beispielsweise die Bevölkerung terrorisieren, demoralisieren oder vertreiben. Als solche kann sie auch angeordnet werden. Solche Befehlsketten sind aber kaum nachzuweisen. Und meist muss gar nicht angeordnet werden, dass vergewaltigt werden soll. Die Männer in diesen Situationen gehen davon aus, dass sie sich nehmen können, was sie wollen. Durch eine Führung, die das Ganze ignoriert, bagatellisiert oder vielleicht sogar durch eine gewisse Tolerierung fördert.

Was geht in diesen Männern vor, die zuhause Familienväter, Söhne und Brüder sind?

Der Gruppen-Druck spielt sicher eine wichtige Rolle. Das wissen wir von Studien mit US-Soldaten in Vietnam: Da wollte sich keiner sagen lassen, er wäre ein Schwächling. Und Männer werden im Krieg ebenfalls traumatisiert. Eine Möglichkeit, die Angst weit von sich zu schieben und sich zugehörig zu fühlen, besteht dann darin, selbst Macht durch Gewalt und Terror auszuüben. Und: Auch diese Männer haben vorher in patriarchalen Strukturen gelebt. Sexualisierte Gewalt ist also etwas, das sie kennen. Denn sie existiert im Kontinuum. Das heißt im Krieg eskaliert, was vorher schon in der Gesellschaft vorhanden war.

Mit welcher Intention wird sexualisierte Gewalt eingesetzt?

Sexualisierte Kriegsgewalt soll das soziale Feingewebe der Frau, ihrer Familie und ihrem weiteren Kontext zu zerstören. Häufig werden Überlebende aufgrund der patriarchalen Dynamiken ausgegrenzt und ihnen teils sogar die Schuld gegeben. Dies kann nur das nur durchbrochen, werden, indem patriarchales Denken problematisiert und die Bedarfe der Überlebenden in den Vordergrund gestellt werden.

Jede zweite bis dritte Frau erlebt im Laufe ihres Lebens sexuelle Übergriffe. Die Straflosigkeit der Täter ist in unserer angeblich so hoch entwickelten Gesellschaft nach wie vor ein Riesenthema
Monika Hauser

Ihnen ist es wichtig, von Überlebenden zu sprechen, nicht von Opfern. Warum?

Wir wollen nicht erneut viktimisieren. Das geschieht im Alltag aber häufig, da werden Frauen ausgegrenzt oder als Opfer gesehen. Die wenigsten verstehen, dass es sehr viel Kraft braucht, um zu überleben. Wir alle sind dafür verantwortlich, die Kraft und die Stärke dieser Überlebenden zu würdigen.

Welche Rolle spielt die Scham bei Überlebenden?

Eine große. Die Frauen haben den tiefsten Angriff auf ihre Intimität, auf ihre Identität erlebt, ihre körperlichen und seelischen Grenzen brutal überschritten worden. Diese schwere Traumatisierung ist dann verbunden mit der Scham, die ihnen durch die Gesellschaft zugeschrieben wird.

Wie helfen Sie in der Ukraine konkret?

Über das europäische Frauennetzwerk „Wave“ haben wir ukrainische Aktivistinnen und Fachfrauen unterstützt, indem wir in Trainings Handwerk vermittelt haben. Es ging darum, dass Überlebende Sicherheit und Stabilität erleben und nicht durch falsches Verhalten neu traumatisiert werden.

Auch beim Terror-Angriff der Hamas am 7. Oktober haben viele Frauen sexualisierte Gewalt erlitten. Die Videos davon wurden im Internet verbreitet.

Solche Videos bedeuten eine zusätzliche Demütigung für die Frauen und ihr Umfeld. Sie erleben extremste Erniedrigung. Das ist zutiefst abscheulich. Nicht nur die Frauen, die gesamte israelische Gesellschaft hat eine extreme Traumatisierung erlebt.

Wie lange wirken solche Traumata nach, wenn Kriege vorbei sind?

Die Frauen und Mädchen, die überleben, werden sehr lange mit den Folgen leben. Das gilt für alle Konflikte, auch die, die in unserer Wahrnehmung weiter weg sind, wie der Sudan, wo auch täglich schreckliche Verbrechen geschehen. Darum ist Außenpolitik, die präventiv arbeitet, so wichtig. Die feministische Außenpolitik, für die Annalena Baerbock sich einsetzt, ist eine riesige Herausforderung, auch angesichts der vielen Fehler und Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft in den letzten Jahrzehnten..

Gerade Politiker belächeln feministische Außenpolitik oft. Warum ist sie wichtig?

Wenn ich eine Situation feministisch analysiere, schaue ich auf die Diskriminierungen. Ich schreite ein gegen patriarchal und auf Machterhalt ausgerichtete Potentaten. Eine feministische Politik ist inklusiv, sie teilt die Macht mit denen, die in sogenannten Minderheiten leben. Und das mag für manche männliche Politiker, die keinen Jota ihrer Macht und ihres Kontrollbedürfnisses abgeben wollen, eine große Herausforderung sein. Wenn wir eine gerechte Zukunft haben wollen, auch im Angesicht der Klimakatastrophe, gibt es aber keinen anderen Weg.

Was hören Sie von den Frauen in Afghanistan?

Wir haben dort 20 Jahre lang sehr intensiv gearbeitet und eine Organisation aufgebaut, Medica Afghanistan, die die Kolleginnen vor Ort über viele Jahre fortgeführt haben. Diese mutige Unterstützungs- und Aufklärungsarbeit ist zerschlagen worden, nachdem die Taliban Kabul eingenommen haben. Heute unterstützen wir lokal und im Exil mehrere Organisationen, die psychosoziale und medizinische Unterstützung für Frauen anbieten.

Was hören Sie aus dem Iran?

Wir sind dort nicht aktiv, wissen aber von Aktivistinnen, die extrem mutig sind. Es gibt dort immer noch Demonstrationen. Und auch in Afghanistan versammeln sich noch immer Frauen auf der Straße, um andere Frauen und Männer zu ermutigen: Gebt nicht auf.

Ihr Lebensthema ist auch biografisch begründet: Es gab Missbrauch in Ihrer Familie.

Meine Großmutter, die in Südtirol lebte, hat mir immer von ihrem Leben erzählt, wenn ich sie als junges Mädchen aus der Schweiz besuchte. Sie wurde ausgegrenzt in der Familie, weil sie häusliche Gewalt erlebt hat. Damals habe ich wahrscheinlich meine Sensoren dafür ausgebildet, Frauen zuzuhören.

Sie sind selbst von Onkeln betatscht worden. Früher galt das als Bagatelldelikt.

In der Pubertät erleben sehr viele Mädchen Übergriffe durch männliche Verwandte oder Bekannte. Mir selbst war damals schnell klar, dass das ein Übergriff ist und meine Grenzen nicht respektiert werden. Das Bagatellisieren durch die Verwandten und das Umfeld führt oft zu neuen Traumata bei den Frauen und Mädchen, die sich dann erst recht allein fühlen. Übrigens haben wir bis heute das Problem, dass jede zweite bis dritte Frau im Laufe ihres Lebens sexualisierte Gewalt erlebt und auch die Straflosigkeit in unserer angeblich so hoch entwickelten Gesellschaft nach wie vor ein Riesenthema ist. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sagt, dass von 100 vergewaltigten Frauen nur eine einzige die Verurteilung ihres Täters erlebt. Das zeigt doch auf, wieviel auch in unserer sogenannten Friedensgesellschaft noch zu tun ist.

Solche Erfahrungen wirken sich oft auch auf die nächsten Generationen aus. Warum ist es wichtig, sich mit diesen transgenerationalen Traumata zu beschäftigen?

Diejenigen, die schwere Traumata erleben, bekommen oft keinen Raum, darüber zu sprechen. Sie haben darum nicht die Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten und geben es fast ungefiltert an ihre Kinder weiter. Das wirkt sich auf die nächste Generation aus, da sie nicht mit der ganzen Entfaltung ihrer Gefühlswelt aufwachsen kann, sondern immer spürt, dass sie bei den Eltern sehr vorsichtig sein oder sogar Verantwortung für die Eltern übernehmen muss. Wir sehen das auch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft: Wenn das Erlebte immer unterdrückt wird und keinen Raum bekommt, fehlt die Empathie, die es bräuchte und die  eigentlich auch vorhanden wäre.

Sie sagen: Wut und Mut liegen eng beieinander. Ist das Ihr Antrieb?

Es ist wichtig, Wutgefühle in Mut und konstruktives Handeln umzusetzen. Sonst ist es sehr frustrierend. Insofern habe ich das große Glück, eine hohe Selbstwirksamkeit erleben zu können. Das geht meinen Kölner und Berliner Kolleginnen und den Partnerinnen vor Ort genauso. Trotz Rückschlägen, trotz schwieriger Bedingungen in den Regionen, wo die Kolleginnen arbeiten, sind wir immer wieder gemeinsam vorwärtsgegangen und haben sehr viel Positives erreicht. Uns ist es auch wichtig, immer wieder die Brücke zu den patriarchalen Strukturen hierzulande zu schlagen. Weil wir in Friedensgesellschaften so viel Gewalt haben, eskaliert es dann auch in Kriegssituationen. Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig.

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