Neu im Schauspiel KölnNikolay Sidorenko: „Ich bin ein guter Junge!“

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Nikolay Sidorenko, gefeiert in Castorfs „Ein grüner Junge“, demnächst in Stefan Bachmanns Uraufführung von Elfriede Jelineks „Schnee Weiss“ zu sehen.

Nikolay Sidorenko, gefeiert in Castorfs „Ein grüner Junge“, demnächst in Stefan Bachmanns Uraufführung von Elfriede Jelineks „Schnee Weiss“ zu sehen.

  • Nikolay Sidorenko, neu im Schauspiel Köln, über seinen Weg von Moskau und Chemnitz auf die Bühne

Ein grüner Junge – nassforsch und zappelig – der sich in endlosen Monologen vorm Publikum ergeht, der im Rederausch auch mal den Faden verliert, über die eigene Begeisterung für seine ausgeklügelten oder doch nur hirnrissigen Pläne stolpert, der sich davon aber nicht im Geringsten aus der Fassung bringen lässt. Mit Frank Castorfs abend- und formensprengender Inszenierung von Dostojewskis vergleichsweise unbekanntem Großroman „Ein grüner Junge“ stellte sich dem Kölner Publikum auch ein neues Ensemblemitglied vor: Nikolay Sidorenko. Zwar war der junge Russe zuvor schon in zwei Ersan-Mondtag-Inszenierungen im Depot zu sehen, aber da stand er nicht in der großen Halle an der Rampe. Sechs Stunden lang, schutzlos exponiert.

Ein Sprung ins kalte Wasser? Im Gegenteil, sprudelt es sofort aus Sidorenko, das sei doch genau, was er sich gewünscht habe. Was sich jeder Schauspieler wünscht. Nicht erst fünf Jahre Durchhaltevermögen in Botenrollen beweisen zu müssen, sondern gleich loslegen zu können. Gerade hat er seinen 26. Geburtstag gefeiert, er weiß, anders als Dostojewskis spätpubertierender Held, ganz genau, was er will und was er tut, aber steckt auch noch voller jugendlicher Energie. Für Castorf zu spielen sei eine befreiende Erfahrung, weil man da nichts falsch machen könne. „Ich kann da ohne Panik rausgehen, ohne Angst vorm Versagen, und wenn dir der Text nicht einfällt, tust du einfach irgendetwas Anderes. Spielst dich hoch, bis du gar nicht mehr spielst! Bis zur Erschöpfung, wo es einfach rauskommt.“ Das musste man Sidorenko nicht zweimal sagen: „Ich pass schon da rein, wo ich mich so durchimprovisieren kann.“

Zum Stück

Elfriede Jelineks „Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier)“ wird am 21. Dezember im Depot 2 des Schauspiel Köln unter der Regie von Stefan Bachmann uraufgeführt.

Weitere Termine: 22. Dezember, 12., 13., 24., 31. Januar, 3., 20., 21. Februar, Depot 2

„Ein grüner Junge“ mit Nikolay Sidorenko ist wieder am 5., 29., 30. Januar und am 9., 22., 23. Februar im Depot 1 zu sehen.

„ Eine Arbeit, die durch Schärfe und Klarheit des Gedankens besticht und nicht deshalb besteht, weil der Konsens bedient wird“, das war für ihn die wertvollste Erfahrung. Vom Berliner Meister könne er sich abgucken, dass Erfolg auch ohne Anpassung geht.

Woher sich Sidorenko so viel Selbstbewusstsein nimmt? Seine Biografie liefert Hinweise: Geboren und aufgewachsen ist er in Moskau, als zweitjüngster von fünf Geschwistern. Als er zehn Jahre alt ist, entscheiden die Eltern, nach Deutschland umzusiedeln. Die Familie verschlägt es nach Chemnitz.

Disziplin war nicht seine Stärke

Die paar Brocken Deutsch, die der kleine Nikolay schon kennt, stammen aus Rammstein-Songtiteln: „Mutter“; Du hast“ und „links“. Doch nach zwei Jahren spricht er schon akzentfrei und wechselt aufs Gymnasium. Eine Bilderbuch-Integration. „Aber plötzlich wurden die Noten schlechter, ich hatte nur noch Fünfen und Sechsen. In Russland hatte ich nie gelernt, das fiel mir gar nicht ein, man schnappt die Sachen halt so auf.“

Disziplin war nicht seine Stärke. Und er fühlt sich auch nicht gewollt auf dem bürgerlichen Gymnasium. „Da hat man mir schon deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mich verpissen soll, in genau dem Wortlaut. Und es gab auch ein, zwei Nazis in der Stadt. Da wird man auch mal angemacht, wenn man im Bus nicht aufsteht, wenn die sich hinsetzen wollen.“

Sidorenko wird aus der Schule geschmissen. Lernt Kampfsport, damit er zurückschlagen kann. Versucht sich an einer Boxkarriere. Rutscht ab in die Kleinkriminalität. „Wobei“, korrigiert sich Sidorenko, „das schon eine bewusste Entscheidung war. Das hat alles so ein bisschen schärfer gemacht. Was man eben so in einer Stadt macht, die einen nicht viel bietet.“ Wie er da wieder rausgekommen sei? Sidorenko lacht, lässt seine Zahnlücke aufblitzen: „Ich bin ein guter Junge!“ Das muss als Erklärung vorerst genügen.

Der Wunsch, vorne zu stehen

Aber welcher Weg führt vom Abhängen vor Plattenbauten und Bushaltestellen ins deutsche Stadttheater? „Den Wunsch, vorne zu stehen und bewundert zu werden, gab es schon länger. Den habe ich nur nie geäußert oder ausgelebt.“ Irgendwie habe sich diese Neigung aber doch bemerkbar gemacht. Als er 19 Jahre alt ist, hat er keine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen soll. Das System hat ihn längst aufgegeben, vom Arbeitsamt wird er zu Maßnahmen geschickt, bei denen er der einzige ist, der überhaupt einen Schulabschluss hat. Dann hat ein Freund von mir, auf dessen Meinung ich sehr viel Wert lege, gesagt: Du gehörst auf die Bühne.“

Beim ersten Vorsprechen weiß er noch nicht wirklich, was er da machen soll. Er nimmt sich einen Coach, wird an der Berliner Universität der Künste aufgenommen. „Berlin ist die beste Stadt, um Schauspiel zu studieren. Da merkt man relativ schnell, worauf man sich eingelassen hat und wo man selber gerade steht.“ Andere merken das auch, seine Studiengangsleiterin empfiehlt ihn ans Deutsche Theater und auch nach Köln.

Zwei Tage Zeit, um zwei Monologe vorzubereiten. Jetzt stellte sich doch Panik ein. Einfach absagen? Nein: „Lieber gesehen werden und verkacken. Zeigen, was ich so kann. Wie ich mich in so einer unsicheren Situation gerettet habe? Ich bin mit so einem kleinen Elektroauto über die ganze Länge der Bühne gefahren, das fanden sie witzig.“ Die angestrebte Rolle ging an jemand anderen. Aber Sidorenko wurde zum Ensemblevorsprechen für die nächste Spielzeit eingeladen. Für seinen Stawrogin aus Dostojewskis „Dämonen“ erntete er Applaus von Stefan Bachmann. „Stell’ Dir das mal vor!“

Nun arbeitet er zum ersten Mal mit dem Kölner Intendanten, und es ist gleich eine Uraufführung und auch nicht irgendeine, sondern ein neues Stück von Elfriede Jelinek, „Schnee Weiss“. Da müsse man freilich ungleich texttreuer sein. Was Sidorenko aber gar nicht so schwer fällt, denn hinter dem fröhlichen Stegreif-Chaoten verbirgt sich wohl ein gewissenhafter, interessierter Arbeiter. Als das Gespräch zufällig Jelineks „Ein Sportstück“ aus dem Jahr 1998 streift, kann er ganze Passagen auswendig deklamieren.

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Nein, seine Familie werde wohl nicht zur Premiere kommen. „Die sind in Chemnitz und haben zu tun.“ Aber in seiner Berufswahl hätten ihn seine Eltern dennoch immer bestärkt. „Die waren froh, dass ich mich endlich mal für eine Sache entschieden habe. Außerdem sind sie Russen, und die stehen eh alle mit einem Bein in der Kultur.“ Immerhin seinen Gastauftritt als Russenschurke mit Goldzahn im RTL-Autobahnkrimi „Alarm für Cobra 11“ hätten sie mit Begeisterung verfolgt: „Dadurch bin ich für sie ein Star.“

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