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OperCarmen erschießt Don José

Lesezeit 4 Minuten
  1. Weil er die Gewalt gegen Frauen anprangern will, verändert ein Regisseur in Florenz den Schluss von Bizets Werk fundamental

Erstochen, erwürgt, hingerichtet, in den Selbstmord getrieben, an Entkräftung gestorben. Es stimmt ja: Auf der europäischen Opernbühne müssen viele Damen ihr Leben lassen. Seit sich im frühen 19. Jahrhundert die tragische Oper - also diejenige mit schwarzem Ausgang - als Gattung gegen das bis dato genrespezifische "fine lieto", den Zwang zum Happy End, durchsetzte, füllte sich das Musiktheater mit schönen finalen Leichen - von Männern sowieso, aber halt auch von Frauen.

Die vielleicht berühmteste weibliche Operntote ist die Titelfigur in Bizets "Carmen". Sie wird am Ende von ihrem eifersüchtigen Liebhaber Don José erdolcht - der Ex-Offizier konnte es nicht verknusen, dass die Zigeunerin ihn zugunsten des Stierkämpfers Escamillo verließ. Tatsächlich dürfte kein Weg an der Deutung vorbeiführen, dass Carmen das Opfer männlicher Gewalt in einer von bodenständigem Machismo und archaischen Ehrbegriffen zutiefst durchdrungenen Gesellschaft wird. Weil deren Geschlechterrollenverständnis mit der - auch sexuellen - Freiheitsliebe einer emanzipierten Femme fatale unrettbar zusammenstößt, schürzt sich überhaupt erst der tragische Knoten.

Cristiano Chiarot, dem Intendanten der Florentiner Oper, passen Plot und Tendenz nicht, und weil er ein Zeichen gegen die Gewalt gegen Frauen setzen wollte, ließ er soeben "Carmen" von Regisseur Leo Muscato dergestalt ändern, dass am Ende nicht er sie, sondern sie ihn tötet. Wie man hört, hat die Produktion bei der Premiere viele Buhs geerntet - und dies nicht nur, weil die Pistolen-Attrappe nicht wie geplant funktionierte. Mindestens einen Fan hat die umgeschriebene Oper allerdings: "Ich unterstütze die Entscheidung, das Finale von #Carmen zu ändern", twitterte der Florentiner Bürgermeister Dario Nardella. Es sei eine kulturelle, soziale und ethische Botschaft gewesen, die Gewalt gegen Frauen, die in Italien zunehme, an den Pranger stelle.

Das Ansinnen in Ehren - wer kann schon prinzipiell etwas dagegen haben, dass auch die Oper in jenem Aktualitätszug mitfährt, der von Harvey Weinstein aufs Gleis gesetzt wurde? Und wer sich an den teils bizarren Umgang des Regietheaters mit dem Kanon gewöhnt hat, wird vielleicht auch über diese neue Extravaganz achselzuckend hinweggehen. Grundsätzliche Einwände ergeben sich allerdings gegen den Denkfehler, der hier offensichtlich vorliegt: Die Oper, die eine Frau als Opfer extremer männlicher Übergriffigkeit sterben lässt, bekundet ja nicht zugleich ihre Zustimmung zu diesem Vorgang.

Eher ist das Gegenteil der Fall: Die toten Operndamen - gleich, ob Verdis erwürgte Desdemona, Puccinis in den Selbstmord getriebene Tosca oder Donizettis hingerichtete Anna Bolena - sind musikalisierte Anklagen gegen eine obwaltende heuchlerisch-frauenfeindliche Sozialmoral. Das gilt sogar noch für Verdis Violetta, die zwar "nur" der Schwindsucht erliegt, welche Krankheit hier aber, um mit Susan Sontag zu sprechen, eindeutig als "Metapher" fungiert.

In diesem Sinne macht der verbreitete weibliche Tod die angeblich so abgehobene Kunstform Oper realistisch - sie stellt halt die Wirklichkeit nicht besser dar, als sie es ist, liefert sie damit aber zugleich der Kritik aus. Dem Musiktheater aus übertriebener politischer Korrektheit diesen Stachel ziehen zu wollen, hieße de facto, das Gegenteil von dem zu betreiben, was man eigentlich will.

Schließlich: Wo soll das alles hinführen? Soll Violetta demnächst ihre Tuberkulose im Sanatorium kurieren, Lulu Jack the Ripper in den Orkus befördern und Norma in Rom erfolgreich um Asyl nachsuchen? All das wäre "endlos langweilig und irreal", schreibt die italienische Zeitung "La Stampa". Dem ist nichts hinzuzufügen.

Berühmte weibliche Opern-Leichen

Norma aus Bellinis "Norma": hingerichtet

Beatrice aus Bellinis "Beatrice di Tenda": hingerichtet

Anna Bolena aus Donizettis "Anna Bolena": hingerichtet

Gilda aus Verdis "Rigoletto": erstochen

Violetta aus Verdis "La Traviata": an der Lungenschwindsucht gestorben

Leonora aus Verdis "La forza del destino": erstochen

Desdemona aus Verdis "Otello": erwürgt

Elisabeth aus Wagners "Tannhäuser": aus Gram gestorben

Elsa aus Wagners "Lohengrin": aus Gram gestorben

Margarethe aus Gounods "Faust": im Gefängnis gestorben

Manon aus Massenets "Manon": an Entkräftung gestorben

Manon aus Puccinis "Manon Lescaut": an Entkräftung gestorben

Mimi aus Puccinis "La Bohème": an der Schwindsucht gestorben

Tosca aus Puccinis "Tosca": in den Selbstmord getrieben

Cio-Cio-San aus Puccinis "Madame Butterfly": in den Selbstmord getrieben

Lulu aus Bergs "Lulu": umgebracht