Regisseur Christian Petzold„Das Kino lehrt uns das Sehen“

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Christian Petzold hält den silbernen Bären in der Hand und freut sich.

Christian Petzold, Regisseur und Drehbuchautor, mit dem silbernen Bären bei der Berlinale.

Der Regisseur Christian Petzold ist einer der meistprämierten Filmschaffenden in Deutschland. Gerade läuft sein neuer Film „Roter Himmel“ in den Kinos.

Herr Petzold, Sie drehen Genrefilme, aber den Regeln gehen Sie beständig aus dem Weg.

Christian Petzold: Das sehe ich anders. Wenn man in die Filmgeschichte schaut und klassische Genrefilme unter die Lupe nimmt, dann sind das stets Filme, die das Genre hinterfragen, verschieben, verändern. Diejenigen hingegen, die das Genre lediglich mit dem bedienen, was schon da ist, das sind die schlechten Filme. John Sturges („Die glorreichen Sieben“) sagte über seinen Ansatz zum Western: Man weiß um die Regeln, aber man nutzt sie jedes Mal anders und nach Möglichkeit besser. Das sehe ich auch so. Nehmen wir Sturges und seinen Western „Zwei rechnen ab“ über die Schießerei am OK Corral – die ist zu dem Zeitpunkt schon Dutzende Male verfilmt worden. Aber Genre, etwa ein Western, das ist wie ein antikes Drama. Es geht immer um den gleichen Mythos, den es stets neu zu erzählen gilt, weil wir ihn immer neu befragen müssen. Das ist das Wunderbare am Genre. Die Grammatik beherrschen wir alle, weil wir die Geschichten kennen, die Märchen und Mythen. Aber jedes Mal ist was neu, der Blickwinkel, das Interesse, der Zeitpunkt des Erzählens. Auf die Weise kommt es zur Neubetrachtung. Und das ist auch das Wunderbare am Kino.

Sie werden in der Wikipedia mit dem Satz zitiert: Das Kino ist eine riesige Sammlung von unerlösten Figuren.

Ja, der ist gut, nicht wahr? Und dabei stand ich da noch am Anfang meiner Karriere.

Was hat übrigens Ihre Liebe zum Kino befeuert?

Ich bin ja in Haan aufgewachsen. Ich komme aus einer kinderreichen Familie und wir konnten deshalb vergünstigt öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Als Jugendlicher bin ich regelmäßig nach Köln gefahren, es gab ja eine Direktverbindung, und habe in der Cinemathek im Wallraf-Richartz-Museum, wo heute das MAK ist, da habe ich meine Filmbildung genossen.

Meine Filmbildung habe ich aus der Cinematik des Wallraf-Richartz-Museums

Wie alt waren Sie da?

17. Da habe ich um die 35 Hitchcock-Filme gesehen, die gesamte Fritz-Lang-Retrospektive. Es gab jedes Mal Leute, die Einführungen hielten. Das hat für mich Türen aufgemacht. Das war meine Grundausbildung, wo ich gelernt habe: Das Kino lehrt uns das Sehen.

Und jetzt zurück zu den unerlösten Figuren.

Ja, mich interessiert das, was hinter einer Geschichte steckt. Nehmen wir den Western „Der schwarze Falke“, wo John Wayne aus dem Bürgerkrieg kommt und Indianerhasser wird. Der Bürgerkrieg ist das wohl tiefste Trauma in der amerikanischen Geschichte, das jede Menge unerlöste Menschen hinterließ und damit seine eigene Odyssee hinterlassen hat. Gleiches mit dem Vietnamkrieg. Robert DeNiro in „Die durch die Hölle gehen“, aber auch in „Taxi Driver“. Oder, mal weg vom Bürgerkrieg – Paul Newman als das Halbblut in „Man nannte ihn Hombre“; alles unerlöste Menschen. Mag sein, dass das ein etwas spezieller Blick auf Filmgeschichte ist, aber ich fand es interessant, darüber nachzudenken.

Und die Folge davon ist was?

Wir können eigentlich nur Menschen folgen, die verzweifelt und traurig sind. Deshalb mögen wir keine Helden, die in sich ruhen und mit sich zufrieden sind, denn dafür gibt es das Fernsehen.

Ohne Fernsehen ist Kino in Deutschland aber auch nicht denkbar. Liegen Sie damit nicht mit an der Kette?

Nein, jedenfalls nicht heute. Als ich studierte, Anfang der 90er Jahre, das waren für mich die schlimmen Jahre im deutschen Kino. Da war Dominik Graf mit seinen unfassbar schönen Fernsehfilmen der Einzige, mit dem ich eine gemeinsame Sichtweise auf Filmerzählen spürte.

Und heute?

Jetzt habe ich mit Fernsehen nicht mehr viel zu tun. Ja, es finanziert mit, aber es sind keine Fernsehfilme. Ich muss nicht genau auf 90 Minuten Länge hin erzählen.

Sehen Sie sich als Filmerzähler oder als Filmemacher?

Ach, dieses Wort! Alle wollen immer irgendwas machen. Wenn ich ein Schild sehe, „Kuchenmanufaktur“, dann entsteht in mir das Bild eines Bäckers, der Macher sein will. Persönlich finde ich Konditor schöner. Ich kann das verstehen, diese Sehnsucht nach Handwerk, nach machen. Auch beim Film. Aber eigentlich sind Filmemacher alle Autoren, also Erzähler.

Wer sagt Ihnen denn besonders zu im Blick auf die eigene Arbeitssituation?

Eines meiner großen Vorbilder ist Claude Chabrol. Jeder seiner Filme träumt von Hollywood, aber er schämt sich nicht, sie alle in Frankreich anzusiedeln und mit seinen bewährten Leuten umzusetzen. Er hat sich nie über zu wenig beschwert. Das, was er hat, ist das, womit er arbeitet. Und das sind dann regelmäßig Filme mit Stephane Audran, oder Isabelle Huppert oder Sandrine Bonnaire.

Sie haben Nina Hoss oder Barbara Auer - jede bislang sechs Mal.

Ja, schon. Aber John Ford hatte doch auch immer die gleichen Schauspieler. Und wenn er seine Filme konzipierte, dann hatte er diese Schauspieler vor sich. Sowas hilft immens bei der Entwicklung der Figuren.

Unter Ihrer Regie gelangte Nina Hoss zu unverwechselbarer Leinwandpräsenz. Wie haben Sie das gemacht?

Das geht nur, wenn die Fotografierte das mitmacht. Die Figuren, die Nina gespielt hat, die haben wir gemeinsam ausgearbeitet. Eine männliche Regieposition a la Hitchcock, die eine Schauspielerin so formt, wie er das möchte, das gibt es heute nicht mehr.

Eine junge Frau mit Fahrrad spricht mit einem jungen Mann, im Hintergrund sieht man das Meer.

Paula Beer als Nadja und Thomas Schubert als Leon in einer Szene von Christian Petzolds aktuellem Film „Roter Himmel“

Was fasziniert Sie an Hoss und Auer?

Naja, man arbeitet ja zusammen, vor und hinter der Kamera. Und in diesen sechs, meistens eher acht Wochen intensiver Zusammenarbeit entdeckt man was, das über das aktuelle Projekt hinaus nach vorn weist. Und darüber tauscht man sich aus, und daraus entwickelt sich meistens die nächste Geschichte. Aus dem Ertrinken in „Transit“ ergab sich das Wasserelement in „Undine“ als neue Rolle für Paula Beer.

Auch sonst setzen Sie auf Kontinuität. Hans Fromm führt immer Kamera, Bettina Böhler besorgt den Schnitt. Sie bekommen Sicherheit, aber der Blick für Neues kann sich einengen.

Beides kann zutreffen, das stimmt. Es besteht immer die Gefahr, dass Strukturen sich verhärten, aus Netzwerken Familie wird. Und plötzlich gibt es persönliche Verpflichtungen, die mit dem Projekt nichts mehr zu tun haben. Hier ist es nun so, dass Fromm und Böhler ja auch andernorts arbeiten und ich bin derjenige, der sie zusammenbringt. Das bedeutet, dass sie immer auch neue Ideen von woanders einbringen, während ich gerade anderthalb Jahre im stillen Kämmerlein mit Schreiben zubrachte.

Ach so, künstlerische Frischluft durch Vertrautheit?

Auch, aber da ist noch was anderes. Wir haben in Deutschland keine Kinoindustrie. Weder Gasteig in München noch Babelsberg in Berlin sind beständig ausgelastete internationale Filmstudios. Wenn wir aber keine Industrie haben, muss man sie sich im Kleinen schaffen. Fassbinder hat das so gemacht, Dominik Graf macht es noch so, und das versuche ich auch.

Wäre ein Streamingdienst wie Netflix ein interessanter Partner für Sie?

Jetzt sicher nicht mehr. Das war mal am Anfang ganz interessant, als die bei Netflix selber nicht wussten, was sie da machen. Aber jetzt wissen sie das ganz genau, und dann macht es keinen Spaß mehr, wenn Leute kommen, die einem sagen, wie ein Film auszusehen hat. Der Zug ist abgefahren.

Als ich "Die Sopranos" sah, war ich mir sicher, das ist die Zukunft.

Und Serien?

Als ich damals in den USA „Die Sopranos“ sah, war ich mir sicher, das ist die Zukunft. Aber es nahm Überhand und ich mag es nicht mehr. Es ist einfach zu viel geworden und ich bin wieder im klassischen Kino gelandet.

Deutsches Kino ist immer wieder von knapper Budgetierung geprägt. Sie auch?

Wenn es für eine Villa nicht reicht, versuche ich eine sehr gute Eigentumswohnung zu bauen. Wichtig ist, dass sie nicht nach verhinderter Villa aussieht. Also schreibe ich das Drehbuch so, wie ich Geld zur Verfügung habe. In den letzten Jahren ist es etwas mehr geworden, von 3,5 auf bis zu 3,9 Mio. Euro.

Das ist jetzt aber nicht gerade üppig.

Mag sein, aber Limitierung fördert Kreativität. Wichtig ist, dass ich die Mitarbeiter gut bezahle, dass es nicht zur Ausbeutung kommt.

Das ehrt Sie. Wie steht es um das legitime Unterhaltungsbedürfnis des Publikums?

Lassen Sie mich das so ausdrücken: Ich liebe das Publikum so sehr, dass ich es mir nicht vorstellen möchte. Ich bin ja selbst 99 Prozent meines Lebens lang Publikum. Und ich mag es nicht, wenn Filme was von mir wollen, wenn Filme anschaffen gehen. Wenn sie mir Sätze oder Szenen hin schmeißen, damit ich an der richtigen Stelle lache oder weine. Das hasse ich. Ich respektiere das Publikum, indem ich es nicht vordenke.


Christian Petzold, 1960 in Hilden geboren, ist einer der meistprämierten Filmschaffenden in Deutschland. Vom Regiepreis der Berlinale über den Deutschen Filmpreis, den Grimme-Preis bis zu internationalen Festivalehrungen staut es sich im Regal. Der Durchbruch als Regisseur kam 2000 mit „Die innere Sicherheit“. Weitere Erfolge gelangen mit „Yella“, „Barbara“, „Transit“ und zuletzt „Undine“. Sein neuer Film „Roter Himmel“ kam am 20. April in die Kinos.

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