Rheinischer Präses LatzelDer Irrtum von Weihnachten

Lesezeit 6 Minuten
Kerzen brennen in einem Wohnzimmer an einem geschmückten Christbaum.

Brennende Kerzen am Christbaum

Der rheinische Präses Thorsten Latzel deutet Weihnachten als das Fest der offenen Fragen. Ein Gastbeitrag.

Ich habe den Eindruck: Etwas stimmt nicht mit Weihnachten. Damit meine ich nicht die Klage über den kollektiven Konsumrausch, in dem wir im Advent die Geschäfte plündern, als gäbe es kein Morgen. Im wahrsten Sinne: Geschenkt! Dass das grenzwertig ist, weiß jede und jeder auch so. Dazu braucht man keinen Pfarrer.

Nein, ich meine etwas viel Grundlegenderes. Aus jedem Kaufhaus-Lautsprecher und Radio schallt einem „Merry Christmas“ entgegen. Leonard Cohens unverwüstliches „Hallelujah“, gebrochen oder geschmettert. „Love is all around“, bis der Tinnitus pfeift.

Thorsten Latzel, Präses aus der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), spricht im Gottesdienst

Thorsten Latzel, Präses aus der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR)

Unser Weihnachten fußt auf einem grundlegenden Irrtum: Der Glaube sei die Antwort auf alle Fragen. Dieses Missverständnis ist fatal, ganz unabhängig davon, ob man Weihnachtsschlager nun mag oder nicht. Es funktioniert nach dem Motto: „Ich kenne Gott und erkläre dir jetzt mal die Welt, das Leben, die Liebe und den ganzen übrigen Rest.“ Eine solche Haltung ist nicht Glaube, sondern religiöse Ideologie. Sprich: Mumpitz. Das Ganze funktioniert zur Not auch ohne Gott. Es geht letztlich um Macht und Manipulation. Kennt man von Populisten. Solche Menschen wollen einen von einer Antwort überzeugen. Doch irgendwie hat man den Eindruck, dass sie nicht einmal die Frage verstanden haben: nichts von den Höhen und Tiefen des Lebens, davon, wie schön, schwer und widersprüchlich es oft ist.

Der Frage wohnt eine Kraft inne, welche die Antwort nicht mehr besitzt. Vor lauter Weihnachtstrubel haben wir allzu oft vergessen, um was es eigentlich geht. Oder mit Bertolt Brecht formuliert: „Überzeugende Fragen. Ich habe bemerkt, sagte Herr K., dass wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, dass wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht – im Interesse der Propaganda – eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen?“

Die Bibel ist ein großes Fragebuch
Präses Thorsten Latzel

So ist das auch bei Jesus Christus. Wir können ihn nicht verstehen ohne die heiligen Schriften, die wir dem jüdischen Volk verdanken. Die Bibel ist ein großes Fragebuch. Gleich am Anfang beginnt sie mit zwei Schlüsselfragen Gottes: „Wo bist du, Adam?“ und „Wo ist dein Bruder, Kain?“ Darum geht es im Glauben – mich von Gott fragen lassen: Wo bin ich? Was fange ich an mit mir, dem Wunder, dass es mich gibt? Und wo sind meine Geschwister, um die ich mich kümmern sollte?

Und es geht zugleich um unsere zweifelnde, tastende Suche nach Gott. Darum drehen sich grob vereinfacht, alle weiteren Geschichten der Bibel: Wo bist du, Gott? Warum hast du uns verlassen? Damit beginnt auch Weihnachten – mit der Frage Marias: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?“ Wie kommt Gott in mein Leben, in unsere Welt? Als Menschen bekommen wir es allzu oft nicht hin: nicht mit uns selbst, den anderen, der Liebe, schon gar nicht mit Gott. Die Antwort des Engels ist bildreich, poetisch: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.“ Doch die Frage bleibt, wie Gott in unser Leben tritt. Wir wissen es nicht. Es ist und bleibt ein Wunder. Es geschieht in uns, an uns, aber eben nicht aus uns.

Die Frage bleibt, wo Gott bei uns geboren wird
Präses Thorsten Latzel

Und es geht weiter mit der Frage der Weisen aus dem Morgenland: „Wo ist der neugeborene König der Juden?“ Der Stern führt sie nach Bethlehem in den Stall. In eine Stätte der Armut, irgendwo in der Provinz. Christus kommt zur Welt, wo wir ihn nicht vermuten: unten, wohnungslos, bei den Tieren. Bald wird er selbst auf der Flucht sein. Doch die Frage bleibt, wo Gott bei uns geboren wird. Gott liebt es, sich unter seinem Gegenteil zu verbergen. Das macht es oft so schwierig, Gott wahrzunehmen.

Fragen durchziehen das weitere Leben Jesu. „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Er wird nicht direkt darauf antworten, sondern auf das hinweisen, was durch ihn geschieht: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“ Interessanterweise wird Christus selbst dabei die Blinden, Lahmen, Aussätzigen immer vorher fragen: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Keine Heilung ohne diese Worte. Weil die Liebe den anderen nicht überrollt.

Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten
Karl Rahner

Er wird seine Jünger fragen, was sie glauben, wer er sei. Jesus als Messias ist ein Meister der Fragen. Bis zu seiner letzten Frage der Verzweiflung, mit der er auf den Lippen stirbt. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Von dem katholischen Theologen Karl Rahner stammt der schöne, weise Satz: „Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten.“ Die Unbegreiflichkeit Gottes und – so sollte man ergänzen – die Unbegreiflichkeit des eigenen Lebens. Erst wenn man die Fragen begreift, beginnt man, das Weihnachts-Halleluja zu verstehen.

„Wo bist du, Mensch? Wo sind deine Geschwister?“ Und: „Wie kann es geschehen, dass du, Gott, in unser Leben trittst?“ In diesem Sinne zum Schluss mein persönliches „broken hallelujah“:

Gott, ich lobe dich, auch wenn ich dich nicht verstehe. Warum bist Du Mensch geworden? War das wirklich klug? Die Sache mit uns ist schiefgelaufen. Immer wieder. Von Anfang. Dein Gärtner in Eden hat sich schon bald als globaler Bock erwiesen. Wir bauen Türme bis zum Himmel und übersehen den Menschen nebenan. Allmächtig, ewig, vollkommen – so stellen wir uns dich vor. Doch Du? Kommst als Säugling, als einer unter Milliarden. Du bist unbegreiflich – in deiner göttlichen Blöße. Es ist, offen gesagt, nicht ganz einfach, an Dich zu glauben, sich allein auf Dich zu verlassen: auf Deine Kraft in den Schwachen, Dein Schaffen aus dem Nichts, Deine Liebe über den Tod hinaus. Wir hätten gerne Wunder und Beweise. Du aber bist eben immer so – unsichtbar. Gott, ich gestehe, dass ich dich nicht verstehe. Aber ich will nicht aufhören, dich zu loben. Deine allumfassende Liebe, die uns verändert, die Not, Leid, Unrecht widerspricht und selbst dem Tod am Ende nicht das letzte Wort lässt. Die einmal „alles in allem“ sein wird: „Love is all around.“ Darauf hoffe ich, darum glaube ich an Dich. Darum singe ich Dir mein „broken hallelujah“.


Der Autor

Thorsten Latzel ist Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Von 2013 bis 2021 war der evangelische Theologe Direktor der Evangelischen Akademie Frankfurt.

Auf ksta.de schreibt Latzel alljährlich zu den Feiertagen im Wechsel mit katholischen Gastautorinnen und -autoren. Zu Silvester/Neujahr veröffentlichen wir 2023 einen Beitrag der Erfurter Theologin Julia Knop.

KStA abonnieren