Rolling Stones auf SchalkeWie kann man mit fast 80 immer noch so gut sein?

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Mick Jagger in Hochform.

Gelsenkirchen – Dieser Abend mit den „Rolling Stones” endet mit einem Kopfschütteln: Wie können drei Herren von fast 80 Jahren nach sechs Jahrzehnten auf der Bühne noch immer so gut und so quicklebendig sein? 

Der Song ist eigentlich schon zu Ende, aber Mick Jagger will noch nicht aufhören. Lässt die schmale Hüfte kreisen, als hätte sich die in 60 Bühnenjahre kein bisschen abgenutzt, und leitet die rund 50.000 Menschen im Gelsenkirchener Stadion zum Chor an: „Baby, baby, baby, you‘re out of time“.

Am Tag zuvor hat er seinen 79. Geburtstag gefeiert, das hier ist sein ironisches Ständchen. Prompt setzt Keyboarder Chuck Leavell erneut zum sanft insistierenden Marimba-Motiv an und der Rest der Band fällt mit ein. „Out of Time“ stammt aus dem Jahr 1966, aber die Rolling Stones spielen es auf dieser Tour zum ersten Mal live. Irgendwann kann man stolz darauf sein, aus der Zeit gefallen, aber immer noch da zu sein.

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Und, bei Gott, sind sie da. Drei dürre Männer, die in flatternden Primärfarbenjacketts über die Bühne wuseln, bunte Ausrufezeichen in einer dämmernden Welt. Ihre Gesichter sehen aus wie mit einem groben Schlageisen gemeißelt, aber die Finger sind noch agil. Ron Wood und Keith Richards spielen immer noch miteinander wie zwei Nachbarsjungs, die sich im Hof zum Fußball verabredet haben. Wood dribbelt mit technischer Finesse, Richards versenkt mit einem herrlich dahingebratzten offenen Akkord auf der Telecaster.

Mick Jagger pumpt, zuckt, schaffelt

Und Jagger bewegt sich eben wie Jagger, pumpt die Arme, lässt die Schultern zucken und die Füße schaffeln. Das größte Wunder aber ist wie sicher, durchdringend, ja nahezu unverändert, seine Stimme klingt.

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Keith Richards (rechts) und Ron Wood.

Natürlich: da fehlt einer. Um zehn vor 21 Uhr verdunkelt sich die überdachte Veltins-Arena und die LED-Schirme links und rechts der Bühne zeigen Bilder des unvergesslichen, unerschütterlichen Rolling-Stones-Schlagzeugers Charlie Watts. Der ist nun schon bald ein Jahr tot, es ist die erste Europatour als Trio (mit acht Gastmusikern). Nach einem dynamischen Auftakt mit „Street Fighting Man“ und „Let’s Spend the Night Together“ ruft Jagger den Massen „Glück auf!“ zu (na gut, „Gluck auf“, aber die Geste zählt) und erinnert noch einmal kurz daran, dass er seit 1963 mit Watts auf einer Bühne stand.

Der Rest verhallt im Stadion, man hört noch ein Deutsches „Wir vermissen ihn“ und ein „sad“ heraus, aber da scheppert schon der berühmte „Keef-chord“ (offene G-Stimmung, Kapodaster auf dem vierten Bund) von „Tumbling Dice“ und Richards wagt sich bis zur runden Plattform am Ende des Laufstegs vor, wo sich Jagger sichtlich wohler fühlt. Kurz ist der kreative Kern der Band vereint – die Glimmer Twins, die sich vor etlichen Jahrzehnten auseinander gelebt haben, aber ohne einander nicht können – da wird Richards schon wieder von Wood abgeholt, Gitarristen müssen zusammenhalten.

Ein großer, verkaterter Abgesang auf die 60er Jahre

„Wild Horses“, das spielen sie nicht an jedem Abend, ist der erste Höhepunkt, Jagger jammert am Standmikrofon, Richards grinst wie ein Honigkuchenpferd. Noch besser ist „You Can’t Always Get What You Want“, der große, verkaterte Abgesang auf die 1960er Jahre, mit seinem Geisterchor und dem schwindsüchtigen Klavierlauf. Aber auch mit einem energischen Ron-Wood-Solo in der Mitte und einer schier endlosen Boogie-Woogie-Coda.

Die Sixties sind Uralt-Geschichte und ihr Niedergang war der musikalische Höhepunkt der Stones, da hält sich das Bedauern in Grenzen. Schon folgt der einzig neue Song der Setlist, „Living in a Ghost Town“, eine Punktlandung zum ersten Lockdown und die letzte gemeinsame Aufnahme mit Charlie Watts. Jagger ist aus seinem lila Glitzerjackett in einen knallroten Hoodie gewechselt und bläst die Mundharmonika als wolle er damit die Geister der Corona-Zeit austreiben.

Keith Richards darf zwei Mal solo ran

Jetzt darf Keith Richards seine obligaten zwei Solonummern spielen, nachdem er bei der völlig unverständlichen Ansage zuvor seine beste Johnny-Depp-Parodie gegeben hat. Oder war das mal andersherum? In Gelsenkirchen sind es „Slipping Away“ und „Connection“, die einzigen „deep cuts“ des Konzerts, man betrachtet staunend diesen alten, lachenden Seebär, dessen einzig verbliebene Droge die reine Daseinsfreude ist – und versucht nicht allzu kritisch seinem Gesang zu lauschen.

Jaggers „Miss You“ rettet, ein Hoch auf die Disco-Stones der ausgehenden Siebziger! Darauf fährt die Show mit „Midnight Rambler“ auf die Zielgerade ein. Wie eine alte Dampflok klingt die Band, nimmt fauchend Fahrt auf, schwankt gefährlich, bremst plötzlich funkensprühend ab. Nie weiß man so ganz genau, wann Richards in die Saiten greifen wird, das ist der größte Spaß an den sonst so perfekten Liveshows der Rolling Stones. „Das ist unsere 117. Show in Deutschland“, ruft Jagger aus. Wahrscheinlich peilt er die 150 an.    

Wood und Richards Gitarrenläufe umgarnen sich

Zum Finale die größten Hits: „Paint it Black“, das stets bemühte „Start Me Up“, „Jumpin‘ Jack Flash“, dazwischen aber das wundersame „Gimme Shelter“, in dessen sagenhaften Intro langsam der Sturm aufzieht, der dann im Orkangebrüll von Jagger und Backgroundsängerin Sasha Allen seinen Höhepunkt erreicht. Das Schönste aber ist wie sich hier Wood und Richards Gitarrenläufe umgarnen. Wood trägt inzwischen ein gelbes T-Shirt, Richards ein blaues Sakko, zusammen bilden sie die ukrainische Flagge und die LED-Schirme zeigen ausgebombte Häuser. Die Bitte um Obdach, sie bleibt leider immer aktuell.

Noch zwei erwartbare Zugaben – „Sympathy for the Devil“ und, wie immer zum Abschluss, „I Can’t Get No Satisfaction“ – und man kann sich wieder kopfschüttelnd auf den Heimweg machen, völlig befriedigt, egal was Mick Jagger da gerade gesungen hat. Warum man mit dem Kopf schüttelt? Weil es schwer zu fassen ist, dass man gerade die Rolling Stones gesehen hat. Und dass die, mit fast 80 Jahren, noch immer so gut sind, in Stein gehauen und trotzdem quicklebendig.

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