„König Lear“Martin Reinke verabschiedet sich vom Schauspiel Köln

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Martin Reinke als König Lear  

Köln – Und hepp: Gut 20 Mann — schwarz gewandet, die Köpfe unter Kapuzen verborgen — heben die quadratische Fläche an. Darauf sitzt auf einem Quader der König. Schaut herab auf seinen Hofstaat, auf der Töchter drei. Unter ihnen will er sein Land aufteilen, sich aller Pflicht entledigen. Und verlangt dafür, so scheint’s, nur Liebe. Die beiden älteren, Goneril und Regan, bekennen sie prompt, kein Maß kenne ihre Zuneigung.

Die jüngste jedoch, Cordelia, liebt ohne Worte, ohne Schmeichelei. Und spricht das Wort aus, das sich fortan wie ein böses Zauberwort über diese Monarchie der Eitelkeiten legt: „Nichts.“ Sie liebe den Vater eben gerade so, wie es sich gehört. Nicht mehr, nicht weniger. Das reicht ihm nicht, dem Lear, er verstößt die „Einstmals-Tochter“ und auch den Höfling Kent, der für sie Partei ergreift. Unmäßig ist dieser König, aufbrausend, ungerecht und überheblich. Ein widerlicher Kerl und am Ende doch die Shakespeare-Figur, die man am heißesten bemitleiden möchte.

Bereits einen Lear im Kleinen gespielt

Martin Reinke, Ausnahme-Schauspieler und Publikumsliebling seit 1990, verabschiedet sich mit diesem „König Lear“ vom Schauspiel Köln, als wollte er sich selbst ein abschreckendes Beispiel dafür setzen, wie man seine Macht nicht aus der Hand geben sollte. Vielleicht ist es auch die Rolle, auf die Reinke ein Schauspielerleben lang hingearbeitet hat. Schon als er sich in Köln als „Siebenmark“ vorgestellt hat, Günter Krämers Inszenierung von Ernst Barlachs „Der arme Vetter“ stammte noch aus Bremer Zeiten, hatte er ja einen Lear im Kleinen gespielt.

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Einen selbstgewissen Geschäftsmann, der vom Sockel stürzt und als wilder Mann in unbehauster Freiheit endet. Schon damals hatte Birgit Walter die Verlobte gespielt, deren Ablehnung ihn in den Wahnsinn treibt, jetzt lässt sie seinen Lear als sich mächtig in alle Himmelsrichtungen ausstreckende Goneril eiskalt auflaufen; wie schön.

Rafael Sanchez in der Regie

Nikola Gründels Regan lehnt den Vater freilich nicht weniger leidenschaftlich ab. Und eigentlich haben die beiden schrecklichen Töchter ja nicht Unrecht: Es ist kein Platz in dieser Welt für einen Ex-König, der die Verantwortung satt hat, aber noch hungrig ist nach Macht.

Rafael Sanchez, unter dessen Regie Reinke bereits als „Willy Loman“ auf der Bühne des Depot 1 den Halt verlor, hat diese lange Reise ins Nichts in tiefstes Schwarz getaucht. Simeon Meiers Bühne bleibt leer bis auf diese Quadratflächen, die mal als Podest, mal angehoben als Projektionsfläche dienen. Dort tauchen dann die Spielfiguren auf, von denen gerade die Rede ist, oder auch jene, die schon dahingemeuchelt wurden, wie Avatare in einem Videogame, das ultraslicke Design stammt von Nazgol Emani.

Eindrucksvoll tost ein Sturm, noch eindrucksvoller gähnt nach der Pause ein schwarzes, quadratisches Loch in der Bühnenmitte, als hätte man das in den Betonboden der alten Kabelfabrik gesprengt. Es ist aber nur der Schatten, den eine von oben angestrahlte, bedrohlich in der Luft hängenden Platte wirft.

Schauspiel Köln: Beeindruckende Verzweiflungsrufe

Aus dem vermeintlichen Loch kriecht winselnd Bruno Cathomas als geblendeter Graf von Gloster, der, die Fehler seines Königs spiegelnd, auf den falschen Sohn gesetzt hatte, den machiavellischen Bastard Edmund, von Seán McDonagh genüßlich als Vokuhila-Fiesling gespielt. Den guten, verstoßenen Sohn Edgar gibt Katharina Schmalenberg, die sinnigerweise auch die geschasste Cordelia spielt, und den armen Narren, der am Ende im Off gehenkt wird. Weil niemand mehr übrig geblieben ist, der über seine allzu wahren Späße lachen könnte.

Die beeindruckendsten Verzweiflungsrufe stammen aber aus der Trompete und den elektronischen Apparaturen, mit deren Hilfe Pablo Giw eine wüste Landschaft evoziert, die keine Armee von Computereffekt-Designern effektvoller rendern könnte.

Schmalenbergs Narr ist die Wucht, wie sie schimpft und schilt, ein herbes Kind, und fast noch besser ist ihr Edgar, der sich als „Armer Tom“ in die Innere Emigration zurückgezogen hat, im Nudesuit in Höhlen hausend: der Mensch, auf die nackte Existenz reduziert. Die letzte Freiheit ist der Irrsinn, Reifsein ist alles, Gloster sucht ihn vergebens, Edgar und der Narr performen ihn virtuos, in Lear fährt er wie der Blitz auf der Heide.

Rolle als Schauspieler völlig durchdrungen

„Ich werd‘ verrückt“, stellt Reinke ganz nüchtern fest. Und verkörpert diesen Wahnsinn denn auch ganz „matter of fact“, ohne jede Kunst, was selbstredend die Höchste ist. Ganz klar ist dieser Wahnsinn, durchscheinend, wie auch das um einige Nebenrollen bereinigte Stück selten in solcher Klarheit zu sehen war. Die Neuübertragung hat ein gewisser Graf Baudissin von Arnt Knieriem besorgt. Hinter dem Anagramm verbirgt sich Martin Reinke.

Der liefert hier das beste Beispiel für seine Anmaßung ab, sich als Schauspieler sehr viel mehr Zeit als vom Betrieb vorgesehen zu nehmen, um seine Rollen völlig zu durchdringen, in ihrer ganzen Fülle und ihren manchmal unauslotbaren Abgründen: „Nichts“ ist das letzte Wort in dieser Inszenierung und die war schon beinahe alles, was man vom „Lear“ verlangen kann.

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Ein großer Abend also, in seinem Furor wie in seiner Klarheit, und ein großer Abschied. Am Ende erheben sich die Zuschauer für den abdankenden Theaterkönig und seine Kollegen eilen auf die Bühne, mit Blumen und Umarmungen. Schließlich wollen auch wir einen Fluch aussprechen: Möge Martin Reinke den König Lear noch ewig spielen!

Nächste Termine: 25., 29. 30. September, 2., 22., 30. Oktober, 6., 16., 22. November, 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause, Depot 1

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