Der israelische Regisseur Itay Tiran zeigt einen feinen „Onkel Wanja“ im Schauspiel Köln. Das Tschechow-Stück berührt wie eh und je.
Schauspiel KölnUnd dann singt Onkel Wanja wie Boy George

Andreas Beck (l.) und Frank Genser in „Onkel Wanja“ am Schauspiel Köln
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Von Träumen singt Françoise Hardy mit somnambuler Stimme. Von Träumen, die bei Nacht entstehen, und am Tag vergehen, während Regen auf die Bühne fällt, auf einen schmalen, flachen Wassergraben platscht, der im Depot 2 die vierte Wand ersetzt. Das Publikum verteilt sich über die vier Seiten der quadratischen Spielfläche, hat die Schauspieler eingekesselt. Die harren auf Bänken aus dunklem Holzfurnier der Dinge, von denen sie längst ahnen, dass sie nicht geschehen werden. Sind im Leben gefangen, wie Zootiere im Gehege. Ausweglos, wie einst in der legendären „Onkel Wanja“-Inszenierung von Jürgen Gosch – auch die Kölner Inszenierung nutzt die deutsche Fassung von Angela Schanelec.
Ein großer Quader droht das Ensemble zu erdrücken, er dient als Hauptlichtquelle. Von den „Millionen unserer Illusionen“ singt die Hardy. Der Sommerguss fällt auch im Baldachin, sammelt sich in der Mitte des Kunststoffglases, beult es aus, wird zur Tschechow'schen Waffe: Ab jetzt warten wir darauf, dass sich ein ernüchternder Schwall über die Bühne ergießen wird.
Hartmut Rosa würde von „Resonanz“ sprechen
Vielleicht hat man „Onkel Wanja“ schon zu oft gesehen, vielleicht hat uns Tschechows 126 Jahre altes Stück von Überdruss und unerfüllten Sehnsüchten nichts Neues mehr zu sagen – aber der Frage des Landarztes Astrow, ob Menschen in ein-, zweihundert Jahren noch an die still Verzweifelten in der russischen Provinz denken werden – gemeint ist, ob sie ihr Leiden nachfühlen können – antwortet weiterhin ein großes „Ja“, wann und wo immer sie ausgesprochen wird, Hartmut Rosa würde von „Resonanz“ sprechen.
Mit dieser Resonanz spielen ja auch etliche Wanja-Versionen, die Probe in Alltagskostümen, in Louis Malles Film „Vanya on 42nd Street“ zum Beispiel, oder Andrew Scotts Ein-Mann-Version des Stückes am Londoner West End, die schlüssig zeigte, wie leicht man sich doch mit jedem einzelnen Charakter im „Wanja“ identifizieren kann.
Der israelische Schauspieler Itay Tiran gibt nach einigen erfolgreichen Inszenierungen am Wiener Burgtheater mit dem Kölner „Wanja“ sein deutsches Regie-Debüt. Und versucht zum Glück gar nicht erst, dem Stück eine neue Interpretation, oder aktuellen Bezug aufzupfropfen. Stattdessen seziert er es auf das Wesentliche, benötigt nur knapp 90 Minuten, um das gesamte Panorama des ungelebten Lebens, um Millionen zerstörter Illusionen aufzufächern.
Die Spielvorgabe ist wie Michael Sieberock-Serafimowitschs Bühne von Beckett'scher Einfachheit: In der Mitte der Bühne werfen sich jeweils zwei Figuren gegenseitig ihr Begehren, ihr Leid, ihren Stillstand vor, oder ein einzelner Leidender stellt sich auf den flachen Tisch und richtet seine Klage an die ganze Welt. Einmal bricht Andreas Becks Wanja in Gesang aus: „Do you really want to hurt me“, seufzt er, der alte Culture-Club-Hit. Der Kontrast zwischen dem aufreizend schmachtenden Boy George und diesem gemütvoll erschlafften, doch innerlich zerrissenen Koloss ist bitterlustig.
Später, als Wanja wirklich nicht mehr weiterweiß, umrundet Beck wassertretend die Bühne, und Uwe Schmieder – er spielt mit großem komischem Gespür die alte Kinderfrau Marina, die Probleme per Teeaufguss löst – trippelt ihm wehenden Haars hinterher. Natürlich landen sie nur immer wieder an derselben Stelle, lebend kommt hier keiner raus.
Alle lieben Elena, aber die liebt niemanden
Auch Frank Gensers Dr. Astrow nicht, dessen große Reden über die Zerstörung der Wälder wirken zwar heute visionär, aber sie spiegeln vor allem seinen inneren Kahlschlag wider und ihr Furor ist vom Wodka befeuert. Genser gibt ihn entsprechend tapsig, mürrisch, ein sich brüstender Schwächling, der allzu schnell einknickt. Vor der dienstbaren Sonja, der eigentlichen Besitzerin des Gutes, deren Liebe er nicht erwidern kann, schwört er beim Ehrenwort dem Alkohol ab, nimmt aber gleich den Schnaps an, den Marina ihn anbietet, weil sie weiß, dass Tee hier nicht mehr hilft.
Astrow liebt, wie alle hier, Elena, die junge, schöne Frau des Professors im Ruhestand. Die liebt ostentativ niemanden. Immerhin, Astrow wäre für eine Affäre gut, doch sie hat sich nun mal für die Rolle der treu aufopfernden Ehefrau entschieden. Gäbe nur das Gut eine weniger popelige Bühne für die Möchtegern-Tragödin ab!
Birgit Unterweger verleiht ihre Figur harte Kanten, in der Rolle der Zynikerin freilich auch ein Maß an Lächerlichkeit. Elena führt Schmierentheater in der Provinz auf, immerhin ist ihr das bewusst, während ihr Gatte, der selbst ernannte Geistesmensch, seine Posen für so wahr nimmt wie seine Gicht. Uwe Rohbeck zeigt aber ebenso die nackte Todesangst hinter den Posen.
Allein Lavinia Nowaks Sonja gilt unser ungebrochenes Mitleid, ein einziges Mal wagt sich die Genügsame aus der Deckung, es geht fürchterlich schief, und wie Nowaks Gesicht in sich einzufallen scheint, das tut beim Hinschauen wirklich weh.
Ein feiner „Onkel Wanja“ ist das, grausam, witzig, erschütternd, weil es ja auch unsere Träume sind, die hier wie Regentropfen zerplatzen.