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Schauspiel KölnWarum „Berlin Alexanderplatz“ jetzt auf TikTok stattfindet

4 min

Louisa Beck (vorne) und Anja Laïs im Spiegelsaal 

Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer verlegt Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ im Depot 1 in die Mannosphäre. Unsere Kritik. 

„Gewimmel, welch Gewimmel“, durchfährt es Franz Biberkopf, als er nach vier Jahren die roten Backsteinmauern des Tegeler Gefängnisses wieder von außen sieht. Der frisch entlassene Häftling – er hat seine Frau mit einem kleinen hölzernen Sahneschläger traktiert und am Ende war sie tot – sitzt in der Elektrischen Richtung Alexanderplatz, überspült von der geballten Informationsflut der rasant anwachsenden Stadt, geblendet von den hundert blanken Scheiben der Geschäfte. „Lass die doch blitzen“, denkt Biberkopf, „die werden dir doch nicht Bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt.“

Auch im Depot 1 wimmelt es auf der blanken, verspiegelten Oberfläche von Pia Maria Mackerts Bühne (Video: Mario Simon), nicht wenige Zuschauer werden in diesen ersten, gnadenlos überfordernden Minuten von Hermann Schmidt-Rahmers „Berlin Alexanderplatz“-Adaption den geheimen Wunsch hegen, die Hunderte von lärmenden Tiktok- und Insta-Kacheln einfach kaputtzuschlagen.

Toxische Typen wie Andrew Tate, Jordan Peterson oder Elon Musk

Vor 35 Jahren hat Schmidt-Rahmer, noch als Teil des hiesigen Ensembles, am Schauspiel Köln seine erste Regiearbeit gezeigt, jetzt kehrt der 65-Jährige mit einer lauten, forciert jugendlichen Inszenierung an seine alte Wirkstätte zurück. Dass er die aktuelle Entsprechung von Alfred Döblins knapp hundert Jahre alter Großstadt-Kakophonie im Moloch der sozialen Medien findet, und dessen Montage-Technik aus Bibelversen, Zeitungsschlagzeilen, Polizeiprotokollen, Statistiken und Schlagertexten im vielstimmigen Konzert der Influencer, im marktschreierischen Kampf der Influencer um Augäpfel und Aufmerksamkeit – es ist schon beinahe zu einleuchtend.

Hier sind es vor allem die Giftschleudern der sogenannten Manosphere, zu Deutsch Mannosphäre: Selbst ernannte Alpha-Männer und toxische Neu-Rechte wie Andrew Tate, Jordan Peterson oder Elon Musk, die aus dem Gewirr des großen Geredes regelmäßig nach vorne geholt werden. Wenn nicht gerade die kleinkriminellen Gernegröße, in deren homosozialem Verbund sich Franz Biberkopf wiederfindet, prahlend vor ihren Handykameras gestikulieren.

Berlin Alexanderplatz, Schauspiel Köln

Ihre wackelnden Selfies legen sich überlebensgroß über das digitale Dauerrauschen. „Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, heißt es bei Döblin. Hier reißt er in jenem Sekundenbruchteil auf, der zwischen den Spielenden und ihren aufgeblasenen Live-Abbildern liegt. Es ist die Lücke zwischen Schein und Sein.

Wie gesagt, das nervt. Und genau das soll es ja auch. Langsam schält sich aus dem wilden Gewimmel dann aber doch die Geschichte vom unbelehrbaren, beharrlich scheiternden Biberkopf heraus, die der Nervenarzt Döblin in seinem Berlin-Roman erzählt. Ein quasi-mittelalterliches Stationendrama, dessen Hauptrolle Schmidt-Rahmer konsequent von Episode zu Episode neu besetzt.

Jonas Dumke spielt den Franz als angeberische Trinkhallen-Type. Er lässt sich mit der Einbrecherbande des schmierigen Reinhold ein, der ihn auf der Flucht aus dem fahrenden Auto wirft, sein rechter Arm muss amputiert werden. Leonhard Huggers derart verkrüppelter Franz ist eine gemarterte Kreatur, ein sich windender Woyzeck der Moderne. Steht dann jedoch in der Interpretation von Fabian Reichenbach als schneidig-scharfer Rechtspopulist („Unser Feind ist gegen Verdienste, gegen Ehrgeiz, gegen Größe. Da musst Du mit dem Flammenwerfer ran“) wieder auf. Vergeblich, die stramme Fassade bricht auf, und heraus schlüpft Franziska Annekonstans Winklers aufgeweichter Biberkopf, ein unverstandener, unartikulierter, unerhörter Mann.

Konstant – auch in ihrem Leiden – bleiben dagegen die Frauen, auf deren Rücken der Biberkopf sich immer wieder aufzurichten und neu zu erfinden versucht, allen voran seine ergebene Dauerfreundin Mieze, die er für sich anschaffen lässt – Empathie qualifiziert in dieser Männerwelt nur zum Opfer. Louisa Beck verleiht der Mieze trotzdem ebenjene Stärke und Standfestigkeit, die ihrem Franz in allen seinen Varianten abgeht. Sie wird am Ende vom fiesen Reinhold in einer Sumpflandschaft (diesmal ohne Großstadt) umgebracht, Anja Laïs spielt ihn in Drag als Andrew-Tate-artigen Männlichkeitsdarsteller, man freut sich über jeden einzelnen ihrer Auftritte.

Zum Schluss wird es existenziell. Das Tiktok-Gewimmel hat Schmidt-Rahmer von Szene zu Szene reduziert, zwischendurch immer mal wieder Todesengel über die Bühne schreiten lassen. Als Uwe Rohbeck, der Älteste im neunköpfigen Ensemble, die Biberkopf-Rolle übernimmt, bleibt die Bühne schwarz. Vom Gefängnis Tegel hat es Franz in die Heilanstalten Berlin-Buch geschafft und dort, als Insasse, ereilt ihn endlich doch noch die Selbsterkenntnis: „Ich bin kein Mensch, ich bin ein Vieh, ein Untier.“ Ein allzu würdiger Abgang für den fragilen Grobian, prompt wird er von einer Werbebotschaft unterbrochen: „Die Milka Extra. Knackige Karamellmandeln mit Salz.“

Es war ein schneller Ritt durch die voluminöse Vorlage. Fassbinder hat sich für seine „Berlin Alexanderplatz“-Verfilmung rund 15 Stunden Zeit gelassen, Schmidt-Rahmer schafft es in 120 Minuten. Da fällt Etliches weg, aber was übrig bleibt, ist mustergültig schlüssig. Dass der Premierenapplaus recht knapp ausfiel, es mag an ebendieser Schlüssigkeit gelegen haben: Die Tobsucht der Großstadt lauert in jedem Handy, das hatte man in der Länge eines Tiktok-Videos kapiert.