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Schnörkellos meisterhafte Literatur„Die Besessenheit“ von Annie Ernaux ist mehr als ein intimes Geständnis

4 min
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, Gewinnerin des Literaturnobelpreises 2022, nimmt an einer Pressekonferenz teil.

Die französische Schriftstellerin und Gewinnerin des Literaturnobelpreises, Annie Ernaux, bei einer Pressekonferenz 2022.

Der neue Roman der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux erzählt von quälender Eifersucht - und ist doch viel mehr als die Geschichte einer Affäre.

„Love is a drug“, heißt es in einem Song von Roxy Music, Liebe ist eine Droge. Wenige Sätze haben wohl einen so hohen Wahrheitsgehalt, werden alle irgendwann einmal Infizierten bestätigen. Wie alle Drogen schafft die Liebe Abhängigkeit bis in den Wahnsinn, wie immer gleicht der Entzug einem Horrortrip. Davon erzählt die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux in ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch „Die Besessenheit“ – und wie sie das tut!

Die Autorin folgt dabei ihrem bekannten Konzept, sie schreibt aus ihrer Perspektive, verarbeitet offensichtlich eigene Erfahrungen radikal und liefert gleichzeitig ein komplexes Gefühlsbild, das bei aller Individualität etwas allgemein Gültiges hat. Ihr Markenzeichen ist das autobiografische Schreiben, das Autofiktionale. In „Die Besessenheit“ ist die Protagonistin eine Frau in den Vierzigern, die ihren jüngeren Liebhaber verlassen hat. Sie wollte ihre weibliche Freiheit ausleben, in die ein fester männlicher Partner nicht zu passen schien. Ein Irrtum, zumindest für sie, wie sie feststellt. Der ist inzwischen wieder liiert und wohnt mit seiner neuen Freundin zusammen. Sie ist Universitäts-Dozentin, aber einen Namen oder andere Merkmale will er seiner früheren Beziehung nicht verraten.

Emotionale Höllenfahrt auf gerade einmal 67 meisterhaften Seiten

Damit beginnt für die Protagonistin eine emotionale Höllenfahrt, denn die Erinnerung an die gemeinsame Zeit, an die gemeinsamen Erlebnisse und nicht zuletzt an den Sex löst einen Schmerz in ihr aus, der in fast obsessiven Hass auf die Neue ihres Ex-Freundes umschlägt, verbunden mit alle Sinne raubenden Qualen: Wie heißt sie, was macht sie, was vor allem macht sie anders, besser? Ist es im Bett mit ihr ekstatischer? Je mehr sich ihr ehemaliger Freund, der bei Ernaux nur W. heißt, weigert, irgendwelche Angaben zu seiner neuen Partnerin zu machen, desto mehr steigert sie sich in ein unerträgliches Ohnmachtsgefühl, sie füllt die Lücken im Wissen mit Fantasien und Ängsten. Die Rivalin scheint gerade deswegen übermächtig, weil von ihr so wenig bekannt ist.

Es ist ein kurzer Roman, gerade mal 67 Seiten umfasst er. Aber die sind meisterhaft. Mit fast wissenschaftlicher Präzision beschreibt Annie Ernaux eine Leidenschaft, die ins Toxische kippt. Mit nüchterner Entschlossenheit malt sie sich aus, wie sie am liebsten gegen die so wenig greifbare neue Frau im Leben ihres Ex vorgehen könnte, zu welchen Taten sie ihr gegenüber fähig wäre, wenn nicht ein letzter Rest zivilisatorischer Bändigung sie zurückhalten würde. Sie leidet geradezu darunter, dass sie die Neue, die Nachfolgerin nicht töten darf.

Intimes Geständnis und zugleich Spiegel der Gesellschaft

Zunehmend kapselt sich die Erzählerin in ihre Gefühlswelt ein, das Außen spielt kaum noch eine Rolle – zumindest nichts, was nicht mit der Neuen, der verhassten Nebenbuhlerin zu tun hätte. Was als Akt der Befreiung begonnen hatte, nämlich die Trennung von dem festen Freund, mündet in eine zersetzende Eifersucht. Doch fast alle Gedanken kreisen um die Neue, die Unbekannte, die Schlampe, wie sie sie nennt. Die ganze Welt, so scheint es ihr, ist bevölkert mit dieser verwünschten Namenlosen.

Da die Rivalin gesichts- und namenlos bleibt, entwickelt die Erzählerin Hassgefühle gegen alle Frauen in Lehrberufen, gegen alle Frauen ähnlichen Alters. Was sie zudem besonders kränkt und verunsichert, ist, dass ihre Nachfolgerin ebenso wie sie älter ist als ihr Freund. Bislang war sie sich sicher, dass es ihrer Einmaligkeit geschuldet war, dass ein jüngerer Mann sich in sie verliebt hatte. Jetzt hat sie das Gefühl, Objekt eines Beuteschemas zu sein – was für eine deprimierende Enttäuschung.

„Die Besessenheit“ ist nicht nur ein intimes Bekenntnis. Sie leuchtet auch den kulturellen Kontext aus, das Verhältnis zu weiblicher Lust und weiblichem Begehren, die Rolle der Frau in Liebesbeziehungen. Es ist damit viel mehr als die Geschichte einer Passion, einer Affäre. Was Annie Ernaux wunderbar versteht, sie zeigt an sehr persönlichem Erleben, wie viel Privates im Allgemeinen steckt und umgekehrt. Und wie schnörkellos schlicht gute (auch unterhaltsame) Literatur sein kann.


Annie Ernaux, „Die Besessenheit“, erschien beim Suhrkamp Verlag, 67 Seiten kosten 20 Euro. Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck.