Schriftsteller Jürgen Becker wird 90„Köln ist sehr menschlich mit all den Fehlern“

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Jürgen Becker

Jürgen Becker

Köln – „Ja, sicher“, sagt Jürgen Becker, „Köln ist meine Stadt.“ Der Schriftsteller, der im rechtsrheinischen Dellbrück lebt, bekennt im Gespräch: „Ich finde, Köln ist sehr menschlich mit all den Fehlern und Schwächen – das hält meine Sympathie für die Stadt nach wie vor am Leben.“ Und so freut es ihn, dass er an diesem Dienstag im Rathaus von der Stadt und vom Literaturhaus geehrt wird. Und zwar auf die ihm genehme kölnische Art: „Kein großes Tralala.“

Für eine solche Würdigung gibt es einige Anlässe. So kommen jetzt gleich zwei Neuerscheinungen heraus. Der 1120-Seiten-Wälzer „Gesammelte Gedichte 1971-2022“, herausgegeben von der Lyrikerin Marion Poschmann, sowie die neuen Gedichte „Die Rückkehr der Gewohnheiten“, die auch in dem Sammelband enthalten sind. Beide Bücher erscheinen im Suhrkamp Verlag, in dem der Autor vor 60 Jahren seinen ersten Text veröffentlicht hat – in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anthologie „Vorzeichen“. Und dann gibt es noch diesen sehr besonderen Grund für eine Würdigung des Böll- und Büchnerpreisträgers: Jürgen Becker wird am 10. Juli 90 Jahre alt.

Frische Beobachtungen und aufblühende Erinnerungen

Seine neuen „Journalgedichte“, gewidmet der Erinnerung an die im September 2021 verstorbene Ehefrau und Künstlerin Rango Bohne, sind selbstredend eine „Fortschreibung“ seines Werks. Schon der Spiegelstrich am Anfang deutet an, dass es weitergeht, wo man einst stehengeblieben war: „– fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine von etwas, das man Kontinuum nennt.“

Glücklich jene Leserinnen und Leser, die Zugriff haben auf jede neue Lieferung des lebenslangen Journals. Es enthält auch diesmal frische Beobachtungen und aufblühende Erinnerungen, dazwischen Wiederholungen und Variationen, die wie Trittsteine im Wasser wirken.

Veranstaltungen

Jürgen Becker mit Marion Poschmann im Kölner Rathaus, 14. Juni, 18 Uhr. Moderation: Sabine Küchler. Veranstaltung der Stadt Köln und des Literaturhaus Köln. Freier Eintritt. Anmeldung: info@literaturhaus-koeln.de

Auftritt zum Auftakt des neuen Festivals „Literatur am Dom“ in Altenberg, 23. Juni, 18 Uhr.

„Gesammelte Gedichte 1971–2022“, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Marion Poschmann, 1120 Seiten, 78 Euro / „Die Rückkehr der Gewohnheiten – Journalgedichte“, Suhrkamp, 78 Seiten, 20 Euro. Beide Bücher erscheinen am 17. Juni.

Oft genügt schon eine Vokabel, um sich auf vertrautem Gelände zu wähnen: Schnee und Pappeln, Risse in der Biographie und Preußen Dellbrück, der Strand in Ostende und die Tankstelle am Dorfrand.

Solche Motive aus dem reichen Repertoire werden bekräftigt, überprüft, in einen neuen Kontext gestellt. Dabei stellt sich heraus: „Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich / verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.“

„Fast täglich hört eine Epoche auf“

Viele Alltagsphänomene haben die Chance, im Vers fixiert zu werden. Das lyrische Ich – das recht selten „ich“ sagt – wird fündig beim Blick aus dem Fenster, beim Durchstöbern des Hauses und bei Nutzung der analogen Medien („regelmäßig Zeitungskiosk“). Im Fernsehen missfällt dem Landschaftsbeobachter, dass die Serie „Mord mit Aussicht“ das Bergische Land als Eifel-Kulisse ausgibt. Und vor dem Radiogerät registriert er, dass der Deutschlandfunk, wo er einst Hörspiel-Chef war, keine Verkehrsmeldungen mehr bringt.

Allenthalben Zeitenwenden: „fast täglich hört eine Epoche auf“. Im Privaten wie im Globalen. Die Corona-Pandemie zieht eine kräftige Spur durch die Gedichte. Dabei verweist auch hier das Heute zurück auf das Gestern. Im Gespräch sagt Jürgen Becker: „Als kurioserweise plötzlich kein Toilettenpapier mehr da war, dachte ich: Moment, das kennen wir doch, dass es etwas nicht gibt. Dass man nun Schlange stand beim Bäcker oder vor dem Supermarkt, hat mir sofort die Kriegs- und Nachkriegserfahrung vergegenwärtigt.“

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Den Zweiten Weltkrieg hat Jürgen Becker, 1932 in Köln in der Strundener Straße geboren, als Kind in Thüringen erlebt. In Erfurt hörte er zum ersten Mal nicht mehr im Radio, wo die Front verlief, sondern erlebte „live“, wie das Geschützfeuer näherkam. Das hat sich eingebrannt. Er sagt: „Jedes Gewitter, wenn es in der Ferne grollt, erinnert mich daran.“

Einschlägige Notizen sind im Gesamtwerk präsent, das alle Gattungen umfasst. Auch die neuen Journalgedichte werden durchzogen vom Geruch der Ruinen, von Not und Flucht und dem Schweigen der Väter. Manche Verse, die alle vor Russlands Einmarsch in die Ukraine geschrieben worden sind, scheinen wie für unsere kriegerisch-verspannte Gegenwart formuliert: „Man hört nicht auf zu lernen, und wir kennen / die Regeln. Aber es hilft nichts, / die Feindseligkeiten gehen weiter.“

„Fassungslos“ über russischen Angriff

Er sei „fassungslos“ gewesen, als Russland am 24. Februar angegriffen habe: „Das hatte ich nicht erwartet. Und es ist ein Krieg, der ja in einen Dritten Weltkrieg münden könnte. Deshalb verstehe ich unseren Kanzler sehr gut, dass seine Regierung mit Waffenlieferungen zögert.“ Dass Deutschland der Ukraine helfe, sei selbstverständlich. „Aber den Luftraum zu schließen und Raketensysteme zu liefern, mit denen die Ukraine russisches Gebiet bombardieren könnte, birgt hohe Risiken.“

Davon handelt womöglich ein nachfolgender Gedichtband. Doch erst einmal kann man sich anhand der beiden Neuerscheinungen an Jürgen Beckers poetischem Realismus erfreuen. Die Notate fügen sich zu einer Chronik des Verschwindens und einer Bestandsaufnahme unserer Zeit: „Wenig hat sich geändert, aber nichts mehr, wie es war.“ Käme jetzt die Sintflut, wäre eine der vornehmsten Aufgaben, Jürgen Beckers Bücher zu retten. Sie sind ein literarisches Archiv der Jahre, die wir kennen.

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