Stinkbomben für Remarque
Als „Im Westen nichts Neues“ im Dezember 1930 in Berlin anlief, kam es zu einem vorbereiteten Skandal: Die SA-Scharen des Gauleiters Joseph Goebbels, die in Zivil in die Kinos gekommen waren, zündeten Stinkbomben und ließen weiße Mäuse laufen. Vermeintlich jüdische Besucher wurden angepöbelt und flammende nationalistische Standreden gehalten. Die NS-Presse verlangte stürmisch das Verbot des US-Films. Da half auch nicht, dass man die Namen jüdischer Mitwirkender aus dem Vorspann entfernt hatte. Deren Beteiligung war bekannt und für die Antisemiten ein gefundenes Fressen.
Es war eine erste Kraftprobe der bereits strauchelnden Republik mit ihren rechtsextremen Feinden. Und sie verlor sie: Auf Antrag mehrerer Landesregierungen verbot die Oberste Filmprüfstelle am 11. Dezember die Vorführung des Films im Deutschen Reich wegen der von ihm ausgehenden „Gefährdung des deutschen Ansehens in der Welt“ und der „Herabsetzung der deutschen Reichswehr“.
Die Wut von Deutschnationalen und Nazis hatte bereits die Vorlage getroffen, Erich Maria Remarques gleichnamigen Roman, der 1928 zunächst im Zeitungsvorabdruck erschienen war. Damals verhinderte die Anti-Kampagne freilich nicht die beträchtliche Wirkung des Buches – es wurde zum Weltbestseller, zum größten literarischen Erfolg nach der Bibel. Hasserfüllte Ablehnung und leidenschaftliche Zustimmung – die beiden Reaktionsformen zeigten jenen geistigen und bald auch „praktischen“ Bürgerkrieg an, in dem die erste deutsche Demokratie zerrieben wurde.

Skizzen des Graphic-Novel- Künstlers Eickmeyer zu seinem Buch „Im Westen Nichts Neues“ nach dem Roman von Erich Maria Remarque
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Remarques Roman ist ein Buch über den Ersten Weltkrieg: Es schildert das Schicksal einer Gruppe von Jugendlichen, die 1914 begeistert in die Schlacht ziehen und nach und nach an der Westfront umkommen – verheizt in einem sinnlosen, menschenverachtenden, von imperialistischem Größenwahn genährten Unternehmen. Ein Antikriegsroman? Aus heutiger Sicht eindeutig, aber der Verfasser wollte laut Vorwort weder ein Bekenntnis noch eine Anklage formulieren. Er wollte lediglich berichten von einer Generation, die der Krieg auch dann zerstört hatte, wenn seine Teilnehmer ihn zufällig überlebten.
Remarque hatte ihn selbst mitgemacht, war mehrfach verwundet worden. Dennoch wurde ihm nach dem Erscheinen des Romans vorgeworfen, er wisse nicht aus eigenem Erleben, worüber er schreibe. Das war freilich nur die verleumderische Verdrängung der unwillkommenen Tatsache, dass da jemand ein identisches Erlebnis auf eine ganz andere Weise und mit ganz anderen Schlussfolgerungen verarbeitete als man selbst.
„Man“ – das war der Mainstream der Revanchisten und Nostalgiker, die den Krieg als defensiv-heroischen Akt deutscher Selbstbehauptung gegen eine Welt von Feinden dargestellt zu sehen wünschten. Wer diesen Imperativen nicht folgte und stattdessen auf die Inhumanität einer von zynischen Machtinteressen gesteuerten Vernichtungsorgie wies, wurde – wie Remarque – als Vaterlandsverräter gebrandmarkt.
Wäre Remarque die Kriegsteilnahme zugestanden worden, hätte sich angesichts dieser Gesinnungslage als Ausweg lediglich die Behauptung ergeben, der Autor habe halt aus seinem Front- und Schützengrabenerlebnis die falsche Schlussfolgerung im Sinne eines pathologisch verfehlten Lernprozesses gezogen. Dies war jedenfalls der Vorwurf, den die Pazifisten in Seitenverkehrung ihren nationalistischen Gegnern machten.
Anders als in den Ländern der früheren Gegner waren diese Fragen in Deutschland mit einer ganzen Fuhre weiterer emotional hochbesetzter Probleme belastet: mit dem Trauma der Kriegsniederlage, mit der Kriegsschulddebatte, mit dem Versailler Vertrag. Die Auseinandersetzung über die Literatur zum Ersten Weltkrieg war im Kern eine deutsche Selbstverständigungsdebatte – die misslang, weil die Beteiligten zwar einen gemeinsamen Erfahrungsgegenstand hatten, aber keine gemeinsame Gesinnung und Sprache.
Der Phalanx der kritisch-pazifistischen „Bewältigungsliteratur“ der 20er Jahre – neben Remarque sind zuvörderst Edlef Koppens „Heeresbericht“, Ernst Glaesers „Jahrgang 1902“ und Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ zu nennen – steht die ebenso stattliche Reihe der nationalistisch-kriegsverherrlichenden Belletristik gegenüber: unter anderem mit Werner Beumelburgs „Die Gruppe Bosemüller“ (1929) und Franz Schauweckers „Der feurige Weg“ (1926). Ihre Prominenz wird in den Schatten gestellt durch Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ (erstmals 1920, dann mehrfach vom Autor bearbeitet). Es beeinflusste paradoxerweise nicht nur Remarque, sondern stellt sich als der eigentliche bellizistische Gegenentwurf zu „im Westen nichts Neues“ dar.
„In Stahlgewittern“ ist die stilisierte und literarisierte Geschichte des ehemaligen Stoßtruppführers und kriegerischen Helden Jünger in den Kämpfen in Frankreich – wo auch Remarque im Einsatz war. Der Fundus, aus dem Jünger schöpfen konnte, war sein Kriegstagebuch, das vor zehn Jahren erstmals publiziert wurde. Interessant im Sinne besagter Stilisierung und Literarisierung sind die Unterschiede zwischen Tagebuch und Kriegsbuch.
Sicher ist der spätere Jünger im früheren in unbehauener Rohform schon da: Das Kriegsgeschehen wird zum Naturvorgang, dem Farbenspiel der Luftkämpfe und explodierenden Schrapnells wächst der Reiz von Sonnenuntergängen zu. „Da“ ist auch die „Sachlichkeit“ desjenigen, in dessen Gestalt archaisches Krieger- und aristokratisches Dandytum einander eigentümlich kreuzen. Zerplatzende Leiber, umherfliegende Gehirne, heraushängende Innereien – all das vermag der von Moral nicht berührte Blick exakt und emotionslos zu beschreiben. Das Auge wird bei und für Jünger zum Kameraobjektiv.
Im Tagebuch fehlt allerdings noch die exzessive, die Ästhetik des Schreckens formulierende Metaphorik. Unangenehmerweise ermöglicht und transportiert sie nun artistische Innovationen, die eine wohlfeile Ideologiekritik stets zu übersehen neigte. Die Plötzlichkeit, die punktuelle Wahrnehmung einer Sekunde, in der blitzartig Gefahr, Schrecken und Tod enthüllt werden – all dies begründete eine neue Dimension ästhetischer Erfahrung, hinter der moralisch unanfechtbare zeitgenössische Anti-Kriegs-Bücher vom Schlage Remarques zurückbleiben.
Dieser Befund ändert nichts an den fatalen Folgen. Jünger brachte aus dem Krieg vor allem die Verachtung des Zivilen mit nach Hause – und damit die Verachtung auch aller Bemühungen, auf dem Boden der Tatsachen – der republikanischen Tatsachen – weiterzumachen. Hier werden die mentalen Hypotheken sichtbar, unter denen Weimar antreten musste und gegen die auch die republikverteidigende Antikriegsliteratur letztlich nichts ausrichten konnte. Die Apotheose des Heldentums aber musste am Ende ein zweites Mal teuer bezahlt werden.
DIE SERIE
Die stürmischen 1920er Jahre erscheinen uns bedrängend nah. Und dann doch wieder ganz fern in ihrer schier unersättlichen Gier nach Umwälzung. Vielleicht können wir ja immer noch etwas von den mal goldenen, immer wilden 20er Jahren lernen? Wir fragen in unserer Serie nach, was uns die Bilder, Filme, Bücher und Musikstücke, die im anbrechenden Jahrzehnt ihren 100. Geburtstag begehen, heute noch zu sagen haben.