Theater der WeltWir müssen denken wie die Oktopusse

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Stephanie Thiersch (l.) und Brigitta Muntendorf

Köln – Es sind unruhige, aufgewirbelte, mal trübe, oft verstörende Zeiten, in denen wir leben. Stellt die feministische Theoretikerin Donna Haraway in ihrer Essaysammlung „Unruhige Zeiten“ fest. Wie soll man in solchen Zeiten leben, wie auf sie reagieren? „Die Aufgabe“, schreibt Haraway, „besteht darin, sich entlang erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen.“

Aber womit? Was soll das heißen? Es geht Haraway darum, erläutert Stephanie Thiersch, Leiterin der Kölner Tanzcompagnie Mouvoir, die Dinge nicht länger allein aus dem anthropozentrischen Blickwinkel zu betrachten. Weshalb sie das Leben anderer, dem Menschen scheinbar ferner Kreaturen in das Zentrum ihres Denkens stellt: Oktopusse, Korallen, Spinnen.

Haraways Buch gab den Anstoß zu „Archipel“, dem Großprojekt von Thiersch, der Kölner Komponistin Brigitta Muntendorf und dem japanischen Architekten Sou Fujimoto, das nun – nach einer langen Odyssee durch das pandemische Ödland – endlich im Rahmen des „Theater der Welt“-Festivals zur Uraufführung kommt.

Die ganze Stadt tanzt

Muntendorf und Thiersch sind keine Anfängerinnen, wenn es darum geht, eine Vielzahl von Beteiligten in ein utopisches Ereignis einzubinden: Vor fünf Jahren etwa hatten sie ganz Köln zum „City Dance“ aufgerufen, einen zwölfstündigen Tanzspaziergang, der vor dem Bahnhofsvorplatz endete, in einer befreienden Bewegung aus der Schockstarre, in welche die schrecklichen Ereignisse der Silvesternacht die Stadt versetzt hatten. „Diese gemeinsame Arbeit, von der Recherche bis zum gemeinsamen Schreiben an Partituren mit Musikern und Tänzern wollten wir jetzt noch einmal größer denken und mit Architektur verbinden“, erzählt Brigitta Muntendorf.

Die poetischen Entwürfe des Architekten Sou Fujimoto aus Tokio erschienen den Künstlerinnen wesensverwandt: die weißen offenen Räume, die Integration von Natur in den Bau, dessen durchscheinende Qualität. Eine Arbeit von Fujimoto kann man im Kölner Skulpturenpark erleben: Die „Garden Gallery“ ist ein offenes Haus, dessen glaslose Fenster die Parklandschaft rahmen.

Bühne als Behausung

Muntendorf: „Wir haben Sou Fujimoto dann gefragt, ob er nicht Lust hätte, mit uns gemeinsam ein Projekt zu machen, in dem die Bühne ihre eigene Skulptur ist, zur Behausung für die Performerinnen und Performer wird und sogar selbst Instrument sein kann.“

Das spektakuläre Ergebnis kann man nun im Düsseldorfer Central in Aktion sehen, eine Gruppe von Bühneninseln, die zugleich an Pilzgeflechte erinnert, die um einen Baumstamm wachsen, ein Archipel fürwahr. „Ein Archipel ist ein kleiner Teil eines großen Gefüges, mit Verweis auf den Horizont, auf noch mehr. Den Namen haben wir gewählt“, sagt Stephanie Thiersch, „weil wir unseren eigenen Kosmos schaffen wollten — der dann aber gleichzeitig über sich hinausweist, auf eine Weiterentwicklung des Menschen.“

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Hier werden Töne und Bewegungen hin- und hergeworfen, zirkulieren, bleiben in ständiger Transformation. Dafür, dass sich die Töne genauso frei bewegen können wie die Performer, sorgt ein neu entwickeltes 3D-Soundsystem, dass die Klangblöcke wie 3D-Objekte in den Raum setzt. Bekanntes erscheint in neuen Zusammenhängen und absurd erscheinenden Welten. Alles kann sich zu jeder Zeit in jede Form verwandeln.

„Für uns“, so Thiersch weiter, „war das auch eine logische Konsequenz aus der interdisziplinären Zusammenarbeit. Wenn man die Genres wirklich miteinander verzahnt, was bedeutet das, wenn man dann noch einen Schritt weitergeht? Wenn etwa der Körper, aus dem Bewegung entstehen kann, gleichzeitig Instrument ist?“

Mehr als 50 Beteiligte

Ursprünglich war „Archipel“ für die Ruhrtriennale 2020 gedacht gewesen. Als die aus den bekannten Gründen abgesagt wurde, befand sich die Fujimoto-Bühne längst im Aufbau. Die Künstlerinnen wussten, dass sie auf jeden Fall weitermachen wollten, und „Theater der Welt“ brachte schließlich die Rettung.

Aber nun war ihr interdisziplinäres Projekt über neue Formen und Rituale des Miteinanders mit mehr als 50 Beteiligten mitten in, wie Thiersch sagt, die Dystopie einer Vereinzelung reingerutscht.

„Das hatte natürlich einen sehr großen Einfluss auf die Arbeit“, bestätigt Brigitta Muntendorf. „Diesen Prozess, den wir auf der Bühne verhandeln wollten, mussten wir jetzt selbst durchmachen. Mussten neu denken, anders formen.“

Ein Chor aus Transhumanen

Physische Präsenz musste durch digitale ersetzt werden, der 16-stimmige Chor aus Norwegen konnte zum Beispiel definitiv nicht mehr anreisen. Er habe sich jetzt, erzählen die Künstlerinnen, in eine Art digitaler griechischer Chor verwandelt, der aus Wesen besteht, die das Humanoide bereits überschritten haben.

Umso eindrücklicher lief das erneute Zusammentreffen mit den Musikerinnen und Tänzerinnen ab, die, in zwei Gruppen aufgeteilt, gleichzeitig in Köln und Düsseldorf probten: „Wir haben in den Proben gemerkt, dass das für uns alle ein besonderer Moment war“, sagt Thiersch. „Langsam wieder dieses Vertrauen aufzubauen, Nähe zu üben. Da steckt jetzt eine ganz andere Kraft und Emotionalität dahinter.“

Zeit schärft Sinne

Von einigen Ideen musste man sich schweren Herzens verabschieden. Dem Publikum die Freiheit zu geben, die eigene Betrachterposition zu wählen, sich um die Bühne wie um eine Installation herum zu bewegen – das ist leider noch nicht möglich (man sitzt jetzt in zwei Halbkreisen). Dafür brachte die Notlage neue Erkenntnisse, etwa die, wie wichtig der Prozess im Vorgang des Verwandtmachens ist, in gewisser Weise, sagt Muntendorf, sei der Prozess das Stück selbst: „Da entstehen tausend Momente, die dieses Stück repräsentieren“.

Durch die – halb erzwungene – Möglichkeit, sich langfristig mit einer Idee auseinanderzusetzen, habe sich diese automatisch verändert, sich ihre eigene Form gesucht. „So etwas ergibt sich durch Zeit. Zeit schärft die Sinne dafür, wie Kunst entsteht.“ Kunst auch als ethischer Akt: Das würde ich mir für das Theater allgemein wünschen, mehr Zeit, weniger Turbo-Output“, sagt Stephanie Thiersch. Als freie Künstlerinnen wollen sie auch in Zukunft große Aufgaben nicht scheuen.

Und Brigitta Muntendorf ergänzt: „Die Freie Szene ist ja immer ein Spiegel dessen, wie frei die Menschen in der jeweiligen Gesellschaft sind – mit »Archipel« wollen wir das umkehren und mit künstlerischer Freiheit jene Freiheit einfordern, die wir als Menschen und in unserer Gesellschaft brauchen, um miteinander wachsen zu können.“

„Archipel. Ein Spektakel der Vermischungen“ von Brigitta Muntendorf, Stephanie Thiersch und Sou Fujimoto ist am 18., 19. und 20. Juni im Düsseldorfer Central im Rahmen des Festivals „Theater der Welt“ zu sehen, jeweils 19.30 bis 21 Uhr.

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