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Zwischen Tradition und ZeitgeistDebatte um alte Kinderlieder – Was darf noch gesungen werden?

Lesezeit 4 Minuten
Kinder singen zusammen Kinderlieder im Morgenkreis einer Kindertagesstätte. (Symbolbild)

Kinder singen zusammen Kinderlieder im Morgenkreis einer Kindertagesstätte. (Symbolbild)

Alte Kinderlieder sorgen für Diskussion: Fachleute ringen um den richtigen Umgang mit heiklen Reimen.

Wird Gewalt verharmlost - oder vielmehr Kulturgut gerettet? Der Streit über traditionelle Kinderlieder trifft ins Herz von Sprachdebatten. Fachleute sehen in alten Reimen sowohl Grenzen als auch Chancen.

„Noch einmal, Mama“, ruft der Junge und klatscht in die Hände, wippt erwartungsvoll. Seine Mutter holt tief Luft - doch dann stockt sie. „Die Affen rasen durch den Wald“, das Lied war in ihrer Kindheit „ganz normal“. Jetzt ist sie unsicher: Kann man das singen - oder steckt in den Zeilen mehr als eine aufgekratzte Tierhorde? Debatten um politisch korrekte Sprache haben Kinderzimmer und Kitas längst erreicht.

Kritik an Klassikern: Kinderlieder unter dem Blick der inklusiven Pädagogik

„Drei Chinesen mit dem Kontrabass“, der „spannenlange Hansel“ und die „nudeldicke Dirn“ gehörten lange ins Repertoire jeder Bildungseinrichtung - gehören es teils immer noch. Letzteres ist aus Sicht des Musikethnologen Nepomuk Riva ein Problem.

Er hat zuletzt das Projekt „Fairplay in der Musikpädagogik - Kultursensibler Umgang mit Kindermusik“ geleitet, eine Fortbildungsinitiative für Pädagogen, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Thüringer Landesmusikakademie Sondershausen. „Dinge wie Rassismus, Bodyshaming oder Gewalt passen nicht mehr zu unserem Anspruch einer inklusiven Pädagogik“, erklärt Riva.

Mitsingkonzert in Köln: Kinder singen zusammen kölsche Lieder sowie Kinderlieder. (Archivbild/Symbolbild)

Mitsingkonzert in Köln: Kinder singen zusammen kölsche Lieder sowie Kinderlieder. (Archivbild/Symbolbild)

Auch scheinbar harmlose Reime wie „Hoppe, hoppe, Reiter“ fallen für den Forscher in diese Kategorie. „Das Lied hatte früher eine pädagogische Funktion“, erläutert er: „Der Reiter darf nicht vom Pferd fallen. Hier wird das Spiel drohend mit einem Kindstod verbunden - das ist nicht mehr zeitgemäß.“

Sprachverein warnt vor Überreaktionen

Klassiker wie „Hoppe, hoppe, Reiter“ zu tabuisieren, davon hält die Sprecherin des Vereins Deutsche Sprache, Dorota Wilke, hingegen eher wenig. Im Gegenteil: „Die Tradierung alter Lieder und Ausdrucksweisen ist eine Bereicherung für Kinder und vermittelt ihnen ein tieferes Verständnis auch für die Entwicklungen, die eine moderne Sprache durchläuft“, sagt sie. „Sprache ist facettenreich und sollte es auch bleiben. Es ist schlicht realitätsfern, alles zu canceln und bei jeder Kleinigkeit pädagogisch durchzudrehen.“

Sicher seien bestimmte Ausdrücke auszuklammern, allen voran rassistische. Aber die Unterstellung, der Reiter-Reim würde Gewaltfantasien vermitteln, gehe über das gewünschte Ziel hinaus. Im Lied „Die Affen rasen durch den Wald“ eine fremdenfeindliche Gesinnung zu vermuten, sei ebenso „absolut fehl am Platz“, mahnt Wilke. „Das sind Stellvertreter-Befindlichkeiten. Es geht hier um Tiere und nicht um Menschen, das ist nicht Kafka, sondern immer noch ein Kinderlied.“

Musikethnologe fordert neuen Blick auf alte Kinderlieder

Das sieht Riva anders. Entscheidend sei, welches Weltbild man Kindern vermitteln wolle. Bei Kinderbüchern sei eine inklusive Sprache bereits weit verbreitet - bei Liedern sehe das anders aus, beklagt der Pädagoge. „Vielerorts wehren sich Menschen beharrlich dagegen, alte Lieder nicht mehr zu singen“, hat er beobachtet. „Die alten Lieder verbinden viele mit schönen Kindheitserinnerungen. Deshalb fällt es schwer, sie kritisch zu betrachten.“ Dafür habe er durchaus Verständnis.

Wichtig ist ihm aber: „Es geht nicht um das gesamte klassische deutsche Liedgut, sondern nur um etwa ein Dutzend der bekannten Kinderlieder. Viele der wirklich kritischen sind im Übrigen erst im 20. Jahrhundert entstanden, waren also nicht schon immer da.“

Wie zeitgemäß sollen Kinderlieder sein?

Um Rhythmus und Melodie zu erwalten, existieren von den meisten heiklen Texten inzwischen angepasste Versionen - oft als „woke“ verschrien. Das sieht Riva wiederum kritisch: Sinnvoller sei es, Neues zu schaffen, das mehr der heutigen Lebensrealität von Kindern entspreche.

Dorota Wilke sagt: „Lieder zu ‚verwoken‘, mag einer guten Gesinnung entspringen, tut aber weder Kindern noch Erwachsenen einen Gefallen.“ Kinder vor Worten, die nun einmal existierten, beschützen zu wollen, nehme ihnen ein Stück Freiheit in ihrer Entwicklung und sei schlicht realitätsfern. „Es ist vielmehr Aufgabe der Eltern, mehr zu erklären und einzuordnen“, so Wilke.

Einig sind sich die beiden Fachleute darin: Am Ende liege die Verantwortung bei den Eltern. Entscheidend sei ein reflektierter Umgang mit Kultur. Und ein wenig mehr Gelassenheit und Reflexion statt pauschaler Urteile - das täte generell wohl auch anderen gesellschaftlichen Bereichen gut. (kna)