Unruhen in FrankreichDiese Filme zeigen den Zorn in den Banlieues

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Szene aus dem Netflix-Film „Athena“. Aufständische arabischstämmige Jugendliche haben sich in einem französischen Vorort gegen die Polizei verbarrikadiert.

Szene aus Romain Gavras' Film „Athena“ von 2022

Seit Tagen erschüttern Unruhen Frankreich. Das französische Kino hat den aufgestauten Hass längst dokumentiert.

Romain Gavras hat wohl den zornigsten Film der vergangenen Jahre gedreht. Er spielt in einer französischen Vorstadt. Sein „Athena“ ist eine 97-minütige „Tour de Force“ in soziale Abgründe einer Banlieue, in eine Welt der Abgehängten – eine Reise mit der Fackel ins Pulverfass. Schon die Eröffnungssequenz des Netflix-Films, gedreht in einer einzigen Einstellung, hat es in sich. „Mein kleiner Bruder ist heute Nacht um 0.30 Uhr verstorben“, sagt da ein junger französischer Soldat arabischer Herkunft, der gerade von einem Mali-Einsatz zurückgekehrt ist, in ein Mikrofon. „Die drei Polizisten in dem Video wurden noch nicht identifiziert.“ Aber alles werde getan, sie zu finden und zu bestrafen.

Abdel (Dali Benssalah) bittet alle, seinem Bruder Idir zuliebe Ruhe zu bewahren. Morgen finde ein Schweigemarsch für den 13-Jährigen statt. Doch die Stadt wird vorher explodieren, das zeigt der langsame Weg der Kamera zu einem jungen Mann, Abdels und Idirs Bruder Karim (Sami Slimane), der seine Erregung kaum verhehlen kann und der noch während der „Beileid, Gebete, Veränderung muss kommen“-Ansprache eines Politikers den ersten Molotowcocktail in die lauschende Menge wirft.

In „Athena“ zeigt Romain Gavras zweifelhafte, aber nachvollziehbare Gewalt

Wie Romain Gavras, Sohn des legendären griechisch-französischen Politfilmers Constantin Costa-Gavras („Z“, „Vermisst“, „Das Geständnis“), diese Eruption der Gewalt filmt, ist atemlos, rasant und lässt einen erschöpft zurück. Wie Revolutionäre bewaffnen sich die Wütenden und verbarrikadieren sich in ihrer Hochhausbastion Athena. Die von Gavras gezeigte Gewalt mag zweifelhaft sein, falsch, nicht gutzuheißen, und doch erscheint sie nach 97 Minuten „Athena“ auch ein Stück weit nachvollziehbar. Ein rasanter Politthriller mit der fliegenden Kamera von Matias Boucard und einer Dringlichkeit, die ganz nebenbei beweist, dass Netflix immer noch großes Kino im Portfolio hat.

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Der Tod des 17-jährigen Nahel M. bei einer Verkehrskontrolle am 27. Juni in Nanterre bei Paris hat in Frankreichs Großstädten tagelange Ausschreitungen mit massiver Gewalt, Bränden und Plünderungen nach sich gezogen, mit Hunderten verletzten Polizisten und aberhunderten Festnahmen gewalttätiger Protestler. Im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Erschießung des Teenagers durch einen Polizisten wurden auch aus Belgien und zuletzt sogar aus der Schweiz Unruhen gemeldet.

So ähnlich sind sich Wirklichkeit und Fiktion in diesem Fall, dass in den sozialen Medien inzwischen sogar Screenshots aus dem Film „Athena“ als Bilder der realen Gewalt Verwendung finden. Da ist ein von aufständischen Jugendlichen gekapertes Polizeifahrzeug zu sehen, bei dessen aus der offenen Seitentür johlenden Jugendlichen es sich zweifellos um Darsteller aus Gavras’ Film handelt. In den sozialen Medien wird diskutiert, ob die Filmstills instrumentalisiert werden sollen, um – von rechts – gegen die Aufständischen Stimmung zu machen.

Mathieu Kassovitz’ Film „Hass“ brachte die Hoffnungslosigkeit der Banlieues ins Kino

Als die Banlieues (die „Bannmeilen“) mit ihren Hochhaussiedlungen, den „cités“, im Zuge der Deindustrialisierung und wachsenden Arbeitslosigkeit in den Siebzigerjahren von Aushängeschildern einer nüchternen Moderne immer mehr zu Vierteln des Abstiegs, der Kriminalität und des Drogenkonsums wurden, und es seit den 80-Jahren immer wieder zu Jugendunruhen kam, wurden sie auch für sozial engagierte Filmemacher interessant. Angelehnt an Luis Luis Buñuels eindringliches Sozialdrama „Los Olvidados“ (1950) über eine desillusionierte Jugend in den Slums von Mexico City, ging es auch in Mathieu Kassovitz’ erschütterndem Schwarzweißdrama „Hass“ („La Haine“, Regiepreis in Cannes 1995) um das überwältigende Gefühl einer Jugend, deren Zukunft verspielt scheint, um Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit und die Folgen.

Die in dem berühmten Zitat des Schwarzen Hubert (Hubert Koundé) am Anfang des Films noch in schwarzen Humor gehüllt werden: „Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt“, hört man Huberts einführende Worte. „Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut …‘. Wichtig ist ja nicht der Fall, sondern die Landung!“ Die nicht weich erfolgen wird. Weder für den Fallenden des Witzes noch für den Banlieuebewohner Hubert.

Auch in „Hass“ liegt ein Junge aus der Pariser Banlieue Chanteloup-les-Vignes nach einer Routinekontrolle der Polizei im Koma (die Geschichte basiert auf der tatsächlichen Erschießung eines gefesselten 16-jährigen Zairers durch einen Polizisten während des Verhörs auf einem Polizeirevier 1993). Drei idealtypische Freunde – Hubert, der Araber Saïd (Saïd Taghmaoui) und der Jude Vinz (Vincent Cassel) – fahren in „Hass“ nach einer Nacht der Krawalle nach Paris. Mit einer Polizeipistole, die er gefunden hat, will Vinz einen Polizisten erschießen, falls der schwer verletzte Junge stirbt.

Das erste Filmgenre nach dem Western, das eine geografische Bezeichnung besitzt

Ein unerbittliches Drama, dessen Ende schon damals klarmachte, dass der Hass zwischen Deklassierten und Staat so groß ist, dass er sich auf der Straße entladen muss, Frankreichs Widerstandsort seit den Tagen der Französischen Revolution. Die altehrwürdige französische Filmzeitschrift „Cahiers du cinéma“ sah in „Hass“ die Geburtsstunde des „Cinéma de Banlieue“, des ersten Filmgenres nach dem Western, das eine geografische Bezeichnung besitzt.

2004 drehte Pierre Morel dann das dystopische Science-Fiction-Drama „Banlieue 13 – Anschlag auf Paris“. Setting ist ein Pariser Vorstadtviertel mit zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, das im Jahr 2010 ähnlich dem Manhattan von John Carpenters „Die Klapperschlange“ (1981) von der Politik aufgegeben und wie ein Gefängnis abgeriegelt wurde und das von kriminellen Gangs beherrscht wird. In der Produktion von Luc Besson („Das fünfte Element“) gesellte sich zu einer politischen Bankrottzuweisung an die Regierenden zwar reichlich Action, gerade dadurch aber wurde die Problematik der Banlieues samt der integrativen Happy-End-Forderung des Drehbuchautors Besson einem Massenpublikum vermittelbar.

Im selben Jahr erzählte der tunesischstämmige französische Filmemacher Abdellatif Kechiche in seinem Drama „L’Esquive“ (Das Ausweichen) eine Liebesgeschichte aus den Banlieues. Da verliebt sich der coole Krimo (Osman Elkharraz) in den Schultheaterstar Lydia (Sara Forestier). Krimo erkauft sich die Rolle des Harlekins an ihrer Seite, macht sich bei seiner Hood damit zum Kasper („Theater ist schwul“) und kriegt im Schulensemble kein Wort auf Theatermaß: „Mehr! Mehr!“, gräbt die Lehrerin in seinem Innersten. Und verschließt ihn vollends.

Kechiches Film zeigt die Kinder, die in den berüchtigten Betonburgen Betonherzen bekommen. Die Farben in „L’esquive“ sind entsprechend ohne jedes Leuchten, Musik fehlt, die Kamera wackelt ihre krakelige Echtheit hin, die Bildnervosität erschwert dem Zuschauer den Fokus, aber jede Regung der Laienschauspieler wird eingefangen. Wer die üblichen verdrogten, sich prostituierenden, von Vätern unterdrückten, früh erlöschenden Helden erwartet, bekommt von Kechiches Truppe ein anderes Bild der Banlieue verpasst. Man sieht authentische Jugend, wird Zeuge ihrer Gespräche über die Liebe und die Erwartungen ans Leben, sieht, wie die latent aggressiven Jungen und Mädchen einem schlichten Ehrenkodex folgen und wie sie manchmal auch dem Irrtum erliegen, Herren der Welt zu sein. Menschen eben, keine Problemfälle per se.

Deutet man die Position der französischsprachigen Schweizer Tageszeitung „Le Temps“ kulturell, werden die Banlieues auch weiterhin verlässliche Lieferanten von Stoff für serielle oder filmische Dramen werden, ist das „Cinéma de Banlieue“ noch lange nicht erschöpft. Denn „anders als die übrigen sozialen Aufschreie in Frankreich fällt es denen in den Banlieues schwer, sich zu organisieren, sich zu einem permanenten politischen Druck zu formieren“.

Die auf die Barrikaden gehen, würden auch weiterhin kein Gehör finden. „Bis zum nächsten Drama.“ Wobei der österreichische „Standard“ bezüglich der durch ein Video dokumentierten Tötung von Nahel Merzouk von einem „emotionellen Impakt (…) in den französischen Banlieue-Vierteln so groß wie das Video vom Tod George Floyds“ spricht.

Ein gewalttätiger Kreislauf, der nie endet

„Es ist ein gewalttätiger Kreislauf“, sagte Mathieu Kassovitz, als damals französische Polizisten gegen „Hass“ protestierten. „Polizisten hassen Kinder, weil Kinder Polizisten hassen, und so geht es weiter, ohne je zu enden.“

An ein belehrendes Kino, das zu einer besseren Welt führt, glaubt Romain Gavras nicht, wie er in Interviews verriet. Dass er mit „Athena“ ins Politkino vorstieß, machte ihm zu schaffen, weil er damit eben das Terrain seines Vaters betrat – „ein enormer Druck“, wie in der britischen Tageszeitung „The Guardian“ zu lesen war. „Die Idee hinter dem Film war (…), wie leicht es ist, wenn eine Situation so angespannt ist, die Nation über den Abgrund zu stürzen“, sagte Gavras dem britischen Internetmagazin „The Quietus“. „Aber es ist auch eine zeitlose Idee – so wie fast jeder Krieg mit einer Lüge begann, vom Trojanischen Krieg bis zu Colin Powell.“

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