Krawalle in FrankreichWoher kommt die Wut?

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Ein Graffiti mit der Aufschrift „Gerechtigkeit für Nahel“ wurde auf eine Wand gesprüht.dpa

Ein Graffiti mit der Aufschrift „Gerechtigkeit für Nahel“ wurde auf eine Wand gesprüht.

Seitdem der 17-jährige Nahel M. erschossen wurde, kommt es in Frankreich jeden Abend zu Krawallen. Ein Besuch in Nanterre.

Wo normalerweise der Wochenmarkt stattfindet, laufen die Aufräumarbeiten. Sonst ziehen sich Stände mit Obst und Gemüse, Billig-Kleidung und Haushaltswaren entlang der Esplanade Charles de Gaulle in Nanterre bis zum angrenzenden Park. Doch seit Tagen ist nichts mehr normal in der Vorstadt im Nordwesten von Paris, die an das Banken- und Geschäftsviertel La Défense anschließt.

Feuerwehrleute sind angerückt, um einen schwelenden Brand unter den verkohlten Balken eines Holzweges entlang der Esplanade zu löschen. „Die haben schwer bezahlt“, sagt ein junger Mann zu seiner Freundin, die am Büro eines Immobilienmaklers vorbeigehen. Die Vitrinen der „Agence du Parc“ sind zerschlagen, das Mobiliar im Inneren liegt kreuz und quer auf dem Boden.

Eine Frau, Hoda Altamar heißt sie, bleibt stehen, schüttelt den Kopf, während ihr Hund an seiner Leine zieht. „Ich schlafe nicht mehr“, sagt die Libanesin, die seit fünf Jahren in Nanterre lebt. „Mein Sohn ist 23, er zieht jede Nacht mit Freunden los. Er sagt, er will nur gucken. Wenn er was anstellt, kann er was erleben!“

Benommen von der Gewalt

Die Passanten an diesem Morgen in Nanterre wirken wie verkatert, ohne am Abend zuvor gefeiert zu haben. Sie sind benommen von der Gewalt, die ihre Stadt jede Nacht heimsucht, seit hier ein Polizist am Dienstagmorgen Nahel M. getötet hat. Der 17-Jährige fuhr mit seinem gelben Mercedes viel zu schnell eine Busspur entlang, die Stopp-Zeichen zweier Motorrad-Polizisten ignorierte er. Er fuhr über eine rote Ampel und blieb erst hinter mehreren wartenden Autos stehen.

Was dann passiert, filmt eine Passantin und stellt es später online. In dem Video stehen beide Polizisten seitlich am Wagen, reden auf den Fahrer ein. Einer der Männer richtet seine Waffe aus nächster Nähe auf ihn.

Als das Auto losrollt, schießt er.

Inzwischen wurde einer der beiden Passagiere, die mit im Auto saßen und flohen, ausfindig gemacht. Die Polizisten, so sagte er aus, hätten Nahel mit ihren Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen. Er sei benommen gewesen, sein Fuß habe sich von der Bremse gelöst, das Automatik-Auto sei von alleine losgefahren. „Schieß!“, habe einer der Beamten gerufen.

Diese hatten zunächst angegeben, der Schuss sei reine Notwehr gewesen, um nicht überfahren zu werden – bevor das Video ihre Version widerlegte. Später, in Untersuchungshaft, sagte der Schütze seinem Anwalt zufolge, er habe aus „Angst, dass jemand überfahren wird“, und aufgrund des gefährlichen Fahrstils von Nahel M., der keinen Führerschein hatte, so gehandelt. Er bitte dessen Familie um Verzeihung.

Schüsse in Nanterre: Ermittlungen gegen Polizisten aufgenommen

Gegen den 38-Jährigen wurden Ermittlungen wegen vorsätzlicher Tötung eingeleitet. Er sei „kein Cowboy“, sondern erfahren und professionell, sagten Kollegen von ihm gegenüber französischen Medien. Seine Familie und die Schule seines Kindes befinden sich unter Polizeischutz, da sein Name und seine Wohnadresse im Internet veröffentlicht wurden.

Für den Tod ihres Sohnes mache sie einzig und allein den Mann verantwortlich, der geschossen habe, sagte Mounia M., Nahels Mutter, im Fernsehen. Sie war alleinerziehend, er ihr einziges Kind. „Wie konnte er meinen Kleinen aus nächster Nähe töten?“ Hunderte wohnten Nahels Beerdigung in der großen Moschee von Nanterre am Samstag bei. Dennoch blieb es friedlich, anders als bei einem Trauermarsch am Donnerstag, als es zu Zusammenstößen zwischen jungen Leuten und der Polizei kam.

Trotz Mounia M.s beschwichtigender Worte glauben viele, es mit dem zerstörerischen System einer Polizei zu tun zu haben, die unverhältnismäßig rabiat vorgeht und besonders junge Männer mit arabischen Wurzeln wie Nahel, dessen Mutter aus Algerien stammt, ins Visier nehme. Sätze wie „Die Polizei tötet“ oder „Keine Gerechtigkeit – kein Frieden“ sind an etliche Mauern und Häuserwände in Nanterre gesprüht.

Krawalle in Frankreich: Abends keine Busse mehr

Eine unbändige Wut bricht sich Bahn und verbreitet sich innerhalb kurzer Zeit im ganzen Land. Von Lille über Straßburg bis Nizza und sogar in den tausende Kilometer entfernten Übersee-Departements ziehen jugendliche Banden bei Einbruch der Dunkelheit durch die Städte. Sie bauen Barrikaden auf, legen Feuer.

Die Folgen sind beträchtlich: Beschädigte Rathäuser, Sozialeinrichtungen und Schulen, geplünderte Geschäfte, in Brand gesetzte Häuser und Autos. Bis zu 45?000 Polizisten sind seitdem jede Nacht im Einsatz. In manchen Orten herrschen nächtliche Ausgangssperren. Etliche Sommer- oder Schulfeste werden abgesagt. Ab 21 Uhr fahren im ganzen Land keine Busse und Trams mehr. Feuerwerkskörper dürfen weder verkauft noch bei sich getragen werden.

Den Ausnahmezustand, wie es manche rechte und rechtsextreme Politiker fordern, rief Präsident Emmanuel Macron aber nicht aus. Noch nicht.

Doch dass die Lage ernst ist, zeigt, dass er am Samstag mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier telefonierte und ihn bat, den dreitägigen Staatsbesuch in Deutschland, der am gestrigen Sonntag beginnen sollte, zu verschieben. Steinmeier „hoffe, dass die Gewalt auf den Straßen baldmöglichst beendet und der soziale Friede wieder hergestellt werden kann“, hieß es in einer Erklärung des Bundespräsidialamtes. Nach einer Krisensitzung mit mehreren Ministern appellierte Macron am Freitag an die Eltern, ihre Kinder abends nicht mehr aus dem Haus zu lassen. „Ein Drittel der Festgenommenen in der letzten Nacht sind jung, manchmal sehr jung“, sagte der französische Staatschef mahnend. Die sozialen Netzwerke würden eng überwacht, um all jene aufzuspüren, die dort zu Unruhen aufrufen. Tatsächlich bleibt es zumindest in der Nacht auf Sonntag ruhiger als in den Nächten zuvor.

„Die Banden, die jetzt durch die Stadt ziehen, suchen nur einen Vorwand, um Krawall zu machen“

Doch kann diese Reaktion ausreichen? Lässt sich so die Situation beruhigen?

In Nanterre glaubt das niemand. Es brauche eine stärkere Antwort des Staates, sagt der 35-jährige Cédric Dedjinou. „So schlimm der Tod dieses Jungen ist: Die Banden, die jetzt durch die Stadt ziehen, suchen nur einen Vorwand, um Krawall zu machen.“

An den Straßenrändern stehen ausgebrannte Fahrzeuge. Die Vitrinen vieler Bushäuschen sind eingeschlagen, die Straßen mit Glassplittern übersät. Unbekannte haben sogar das Mahnmal für die im Zweiten Weltkrieg Deportierten beschmiert. Ein Kinder-Karussell im Park wurde abgefackelt. Wie ein grau-schwarzes Zeugnis der sinnlosen Zerstörungswut steht es da.

„Sie machen ihre eigene Stadt kaputt“, klagt die 89-jährige Colette, auf ihren Stock gestützt. Sie fürchte, dass die jetzige Situation „ein roter Teppich“ für die extremen Rechten sei, die die Stimmung noch anheizen. „Es gibt hier jede Menge Aktivitäten für die jungen Leute. Die Stadt tut sehr viel für sie.“ Armut und Perspektivlosigkeit seien keine Entschuldigungen für die rohe Gewalt.

Weniger Geld für die Vororte

Aber können es Erklärungen sein? Warum eskaliert die Lage in Frankreich derart? Wie zuletzt nach den Terroranschlägen in den Jahren 2015 und 2016 richtet sich der Blick wieder auf die sozial angespannten Vororte, in denen besonders viele Minderjährige und Menschen mit Migrationshintergrund leben. Die Jugendarbeitslosigkeit ist oft hoch, es gibt wenige Freizeitangebote – was auf Nanterre nicht zutrifft.

Doch insgesamt gibt der Staat in den sozialen Brennpunkten „viermal weniger Gelder im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl aus als anderswo“, stellte der ehemalige Minister Jean-Louis Borloo 2021 fest, als er Macron einen Bericht über die Banlieues mit Vorschlägen überreichte. Der Präsident legte sie mehr oder weniger zu den Akten. Seit Jahrzehnten wurden immer wieder Großprogramme gestartet, bei denen viele Milliarden in den sozialen Wohnungsbau, die Schulen und öffentlichen Transportmittel flossen. Die erhoffte Wirkung blieb aus. „Wir sitzen auf einem Pulverfass“, sagt Oussouf Siby, Gemeinderat der Linken in der Pariser Vorstadt Aulnay-sous-Bois.

Dem Soziologen und ehemaligen Lehrer Fabien Truong zufolge handelt es sich bei den jungen Aufständischen um „Jungs im selben Alter wie Nahel, die aus einem einfachen Grund so gewalttätig reagieren: Sie hätten an seiner Stelle sein können“.

Jeder der Jugendlichen in den Banlieues habe schon erniedrigende Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Oft würden sie einfach nur kontrolliert, weil sie vor ihrem Wohnhaus herumstehen – also „für das, was sie sind und nicht, weil sie irgendetwas getan haben“. Die jungen Männer befänden sich in einem Alter, in dem man seinen Platz in der Welt suche und auch mal rebelliere: „Daher ist es so wichtig, dass der Polizist für diese Situationen ausgebildet ist, um absurde Eskalationen zu entschärfen.“ Doch oft seien die Beamten selbst überfordert.

Krawalle in Nanterre: Erinnerungen an 2005

Einige Polizeigewerkschaften gießen derweil noch Öl ins Feuer. In einer Mitteilung beschweren sie sich über das „Diktat dieser gewalttätigen Minderheiten“ und rufen zum Kampf gegen die „Schädlinge“ auf. Auch Macrons schnelle Reaktion noch am Dienstag, der das Verhalten des Beamten gegenüber Nahel „unerklärbar, unentschuldbar“ nannte, empört viele Polizistinnen und Polizisten. Sie beklagen eine Vorverurteilung.

Viele ziehen eine Verbindung zum November 2005, als brutale Unruhen die französischen Vorstädte erschütterten und Präsident Jacques Chirac den Ausnahmezustand ausrief. Auslöser war der Tod zweier Minderjähriger, Zyed und Bouna, im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, die durch einen Stromschlag in einem Trafohäuschen sterben. Sie waren vor der Polizei weggelaufen, ohne etwas verbrochen zu haben. Die ganze Wahrheit über den Vorfall und die Fehler der Polizei kam erst später ans Licht. „Die Wut rührt von der Erfahrung der Ungerechtigkeit her“, erklärt Fabien Truong.

Doch es gibt auch Unterschiede zu 2005. Experten erkennen eine stärkere Radikalisierung. „Viel schneller als damals kam es zu Plündereien“, sagt der Soziologe Thomas Sauvadet. Auch werden die Beteiligten immer jünger, sind oft erst 13 oder 14 Jahre alt. Die Macht der Fotos und Videos ist noch größer, die sich in Windeseile über die sozialen Netzwerke verbreiten und die Lage noch anheizen, sogar zu einer Art Wettbewerb zwischen Aufständischen führen können. Ein ausgebranntes Kinderkarussell wird dort zu einer Art Trophäe eines Widerstands – von dem unklar ist, wie er schnell gebrochen werden kann. (RND)

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