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Unser kleines Schiff

Lesezeit 4 Minuten

Peter Lohmeyer (vorne) als Kapitän Gustav Schröder

„Mein Name ist Otto Schiendick“, stellt sich Stefko Hanushevsky im Depot 2 vor, als wäre er der Spielleiter in Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt“, aber dann „und ich bin ein Nazi.“ Man weiß also, woran man ist. Und so bleibt es während der gesamten zwei Stunden von Daniel Kehlmanns neuem Stück „Die Reise der Verlorenen“, das der Kölner Hausregisseur Rafael Sanchez am Donnerstag in deutscher Erstaufführung zeigte.

Was der Zuschauer am Anfang noch nicht weiß, erfährt er sogleich von Otto Schiendick: Der ist Steward in der zweiten Klasse des Ozeandampfers St. Louis und zugleich Ortsgruppenleiter der NSDAP, auch Schiffe hätten nämlich Ortsgruppen.

Wir schreiben das Jahr 1939 und die St. Louis ist auf großer Fahrt nach Havanna. Sie ist ausgebucht, von jüdischen Flüchtenden aus Nazi-Deutschland, denen die Schiffsgesellschaft Hapag zynischerweise den Preis für eine Hin- und Rückfahrt berechnet hat. Zur Rückfahrt kommt es dann aber doch, denn Kubas Präsident weigert sich, die Emigranten aufzunehmen. Diese Reise in Richtung Tod wird sehr schön von Thomas Dreißigackers Bühne illustriert. Das Meerespanorama, das bislang still hinter dem angedeuteten Schiffsbug hing, gerät quietschend ins Schaukeln. Und die Passagiere blicken stumm dem unsicher schwankenden Horizont entgegen.

Die Geschichte ist wahr, die handelnden Personen hat es wirklich gegeben, was Schiendick und seine Passagiere immer wieder betonen. Betonen müssen, weil sich die Ereignisse derart parabelhaft vollziehen, dass man meinen könnte, Kehlmann hätte sie sich für eine Ethikvorlesung ausgedacht. Tatsächlich gibt es bereits mehrere Sachbücher und künstlerische Bearbeitungen des Stoffes, vom Hollywood-Starvehikel („Die Reise der Verdammten“, 1976) bis zur Oper. Aber es liegt auf der Hand, warum der Stoff gerade jetzt noch einmal auf die Bühne gehört, die Parallelen zur Geschichte der deutschen Kapitänin Carola Rackete, die ein Verbot der italienischen Behörden missachtete, um mit 53 Flüchtlingen, die sie zuvor aus Seenot gerettet hatte, im Hafen von Lampedusa vor Anker zu gehen, sind frappierend.

So frappierend, dass sich Stück und Inszenierung weitere Hinweise darauf sparen können. Bis auf den einen. Wer sich fragt, wie er auf der St. Louis, oder generell unter der Nazi-Diktatur gehandelt hätte, für den hält Hanushevsky/Schiendick eine giftige Wahrheit parat: „Falls Sie wirklich nicht wissen, wie Sie gehandelt hätten, dann wissen Sie es schon. Dann hätten Sie gehandelt wie ich.“ Die Gnade der späten Geburt, sie entfällt.

Die Uraufführung vor rund einem Jahr im Wiener Theater in der Josefstadt überwältigte mit mehr als 50 Akteuren. Rafael Sanchez hat Ensemble und handelnde Personen radikal reduziert, sechs Schauspieler übernehmen jeweils drei bis vier Rollen, dazu kommen noch drei – ganz ausgezeichnete – Kinderdarstellerinnen, und Cornelius Borgolte am Klavier. Das reicht nicht nur völlig aus, die mal fließenden, mal überraschenden Übergänge zwischen den Figuren sind der gelungenste Teil des Abends. Ein Fressen, wie man so sagt, für die Schauspieler.

Denkt man jedenfalls, wenn Peter Lohmeyers moralisch aufrechter Schiffskapitän Gustav Schröder den Rücken krümmt und zur schelmischen Greisin Charlotte Bergmann mutiert. Und die Drei- , beziehungsweise Vierfach-Besetzungen machen auch inhaltlich Sinn. Nikolaus Benda kuscht als allzu kompromissbereiter jüdischer Emigrant Dr. Fritz Spanier ebenso vor der Macht wie als kubanischer Präsident Laredo Brú. Der weigert sich aus Angst vor der öffentlichen Meinung und vor dem wahren starken Mann im Staat (dem späteren Diktator Fulgencio Batista), die Flüchtenden aufzunehmen. Ebenfalls aufschlussreich: Wenn Justus Maier gleich zwei ehemalige KZ-Häftlinge spielt, der eine ein gebrochener Mann, der mit aufgeschlitzten Pulsadern von der Reling springt, der andere ein unbeugsamer Kämpfer, der versucht eine Meuterei anzuzetteln. Am Ende rettet sie ein fauler Kompromiss. Frankreich, Belgien, die Niederlande und England erklären sich jeweils bereit, einen Teil der Passagiere aufzunehmen. Diejenigen, die es auf den Kontinent verschlägt, sehen die Nazis bald wieder.

„Jetzt sind wir alle friedlich vereint im Tod. Die Schurken und die Guten und die, die keines von beiden waren“, summiert der Nazi Otto Schiendick und es ist fast zu offensichtlich, dass Daniel Kehlmann uns genau das Gegenteil vermitteln will.

Der Applaus im Depot 2 fällt donnernd aus, das ist verständlich angesichts des tollen Ensembles und Rafael Sanchez’ souverän entschlackender Inszenierung. Doch Kehlmanns Text bleibt geheimnislos und altbacken. Selbstredend kann man mit einer Geschichte aus den 1930ern heutiges Unrecht anmahnen. Aber die ästhetischen Mittel von damals sollte man schon übersteigen.

STÜCKBRIEF

Regie: Rafael Sanchez Bühne: Thomas Dreißigacker Kostüme: Maria Roers Musik: Cornelius Borgolte

Mit: Nikolaus Benda, Stefko Hanushevsky, Peter Lohmeyer, Justus Maier, Kristin Steffen, Birgit Walter, Noëllie Zirpins, Manjusha Hirschberg, Ida Marie Fayl, Ruth Grubenbecher, Fritza Zöllich, Jona Laabs

Termine: 10. (Restkarten), 13., 14., 19., 29. 11.; 6., 14., 18. 12., Depot 2, 120 Min., keine Pause