Vor 100 Jahren geborenWas den Literaturkritiker Reich-Ranicki unvergessen macht

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  • Die Hand stets zum charakteristischen Wedeln erhoben, war Marcel Reich-Ranicki ein Präzeptor, den man besser nicht verärgerte.
  • Vor 100 Jahren wurde der große Literaturkritiker geboren. Eine Würdigung.

Lange war Marcel Reich-Ranicki auf eine Rolle festgelegt, die er sich freilich selbst nur zu gern ausgesucht hat, die Rolle des Literaturkritikers. Diese füllte er mit einer Vehemenz und Leidenschaft aus, die ihn auch in einem literarischen Quartett zuverlässig zu einem Solisten machte: Die Stimme schneidend, wenn ihm etwas nicht gefiel, ja, wenn sich die Autoren zuschulden kommen ließen, was er ihnen am wenigsten durchgehen lassen konnte – wenn sie ihn langweilten.

Die Hand zum charakteristischen Wedeln erhoben, ein Präzeptor, den man besser nicht verärgerte. Kein Wunder, dass manche Schriftsteller ihn hassten. Aber ist Hass nicht eine Kategorie, die in Kunst und Literatur eigentlich nichts zu suchen haben sollte, die Marcel Reich-Ranicki aber selbst mit seinen gnadenlosen Urteilen zwischen Gut und Schlecht beförderte? Als Martin Walser seinen Roman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte, war da vieles vielleicht satirisch gemeint, aber anderes entsprang zweifellos einer fundamentalen Zerrüttung und verletzter Eitelkeit.

MRR war also eine Institution des literarischen Lebens im Nachkriegsdeutschland, an der man nicht vorbeikam, als Autor der „Zeit“, später als Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und dann als Erfinder und erste Geige des „Literarischen Quartetts“ im ZDF – gefürchtet, beneidet, vom Publikum geliebt, weil nichts unterhaltsamer ist als einer, der die Welt frei Schnauze erklärt, und sei es die Welt der Literatur.

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Doch je älter Marcel Reich-Ranicki wurde, je souveräner und unangefochtener er seine Position als erster Literaturkritiker der Republik ausfüllte, desto entschlossener nahm er einen Rollenwechsel vor – er ließ Facetten seiner Persönlichkeit zu, die ihn unversehens verletzlich und human erscheinen ließen, ganz anders als in seiner Papstrolle. Er trat als Zeitzeuge hervor, als Opfer des Nationalsozialismus, als polnischer Jude, der das Warschauer Ghetto überlebt hatte und später Unterschlupf bei der Familie des Schriftsetzers Bolek Gawin fand. Dieser bot er Nacherzählungen bedeutender Romane der deutschen Literatur, er habe, so schreibt er es in seinen 1999 erschienenen Memoiren, um sein Leben erzählt. Ein Scheherazade-Motiv, das selbstverständlich seinerseits aus der Literatur stammt.

Literatur als Lebensretter

Vermutlich hat die Literatur tatsächlich Marcel Reich-Ranickis Leben gerettet, nicht nur, weil die Familie Gawin sich nicht satthören konnte an seinen Erzählungen und ihm und seiner Frau Teofila, genannt Tosia, deshalb immer weiter Unterschlupf gewährte. In einer Zeit, in der die Welt um ihn herum zusammenbrach, war es die Literatur, in die sich Reich wie in eine Gegenwelt flüchten und retten konnte.

Humanistische Werteordnung

Bei Shakespeare und Goethe, bei Heine und Hölderlin war die humanistische Werteordnung intakt, die in der Realität des 20. Jahrhunderts außer Kraft gesetzt war. Marcel Reich-Ranicki empfand die Literatur stets als realer, als er es der Wirklichkeit je zugestehen wollte: Die Loreley sei nur deshalb bedeutend und mehr als ein läppischer Felsen, weil Heine sie besungen habe, so zitiert ihn sein Sohn Andrew, der – vielleicht bezeichnenderweise – einen ganz anderen Weg nahm als der dominante Vater. Andrew Ranicki ist Mathematiker und lebt in England.

Doch spätestens mit der Veröffentlichung seines Buchs „Mein Leben“, das auch verfilmt wurde, begann Reich-Ranicki andere Geschichten zu erzählen als die der Literatur. Er klärte auch im Gespräch mit Schülern und Studenten auf über die Geschichte der Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts, die er so schmerzhaft nah miterleben musste – als Sohn, dessen Eltern in den Gaskammern von Treblinka starben, als junger Mann, der im kommunistischen Polen bei der Geheimpolizei arbeitete und später im konsularischen Dienst nach London ging.

1958 ließ er sich in der Bundesrepublik nieder, wo er auch dank der Teilnahme an den Treffen der Gruppe 47 durch seine kompromisslose Sprache auffiel und zu einer beispiellosen Karriere ansetzte. Er hat sich einen bleibenden Platz im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen erobert, auch durch seine zweite Karriere als Zeitzeuge, zu der er sich glücklicherweise durchgerungen hat. Heute vor 100 Jahren wurde Marcel Reich-Ranicki in Wloclawek geboren.

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