Vor 200 Jahren starb NapoleonPassion auf Sankt Helena

Napoleon Bonaparte in der Uniform eines Oberst.
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Köln – Am Abend des 5. Mai 1821, vor 200 Jahren also, hatte die Quälerei ein Ende: Napoleon, abgedankter Kaiser der Franzosen, starb im Alter von 51 Jahren auf der zu Großbritannien gehörenden und 1860 Kilometer vor dem afrikanischen Festland (Angola) liegenden Atlantikinsel Sankt Helena. Dorthin hatte ihn die Allianz der Sieger in jenem jahrelangen europäischen Ringen, das seinen Namen trägt – der Napoleonischen Kriege – sechs Jahre zuvor verbannt.
Das geschah mit Bedacht: Sankt Helena, von wo aus die Schiffspassage nach Europa zwei Monate dauerte, war in jeder Hinsicht „weit weg“ – zu weit jedenfalls, als dass die Gefahr neuerlicher „hundert Tage“ gedräut hätte. Die erste Verbannung auf die Mittelmeerinsel Elba hatte Napoleons kurzzeitige Rückkehr auf den Kaiserthron 1815 nicht verhindert. Es bedurfte einer nochmaligen, in die Waterloo-Schlacht mündenden Großanstrengung Englands, Österreichs, Russlands und Preußens, um den Ruhestörer definitiv loszuwerden.
„Gelitten unter Hudson Howe“ – mit dieser dem „Credo“ der katholischen Messe entlehnten Formel beschrieb die Napoleon-Hagiographie die letzten Lebensjahre des einstigen Herrschers über nahezu einen ganzen Kontinent. Howe war der Gouverneur der Insel, der die ihm aufgetragene Bewachung des Ex-Kaisers in der Tat ziemlich ernst nahm – Napoleon konnte keinen unbeobachteten Schritt tun, seine Aufpasser schauten sogar durch die Fenster seiner „Residenz“, des bescheidenen „Longwood House“ auf der Hochfläche der Insel.
Die Erzähler von Napoleons „Passion“ gaben sich seit jeher alle Mühe, Sankt Helena in den Farben eines „locus horribilis“ zu malen – und trugen dabei arg dick auf. Eine spärlich bewachsene Insel im Dauerregen und -Sturm inklusive hoher Luftfeuchtigkeit, die sogar noch die Spielkarten wellig werden ließ – schlimmer ging es nicht. Dabei dürfte Longwood House, wiewohl mustergültig restauriert, heutzutage auf kundige Besucher einen noch ungünstigeren Eindruck machen, als er wohl zu Napoleons Zeit erregt wurde: Ohne die weiland das Anwesen umgebenden „schattenspendenden Bäume“ und das „dichte, dekorative Inseln bildende Buschwerk“ wirkt es jedenfalls auf den Historiker Johannes Willms (in seinem neuen Buch „Der Mythos Napoleon“) „wie ein Fertighaus, das als Hauptpreis einer Fernsehlotterie auf einer öden Studiofläche vorübergehend abgestellt“ wurde.
Die Vergiftungstheorie hat sich erledigt
Zur christus-nahen Leidensgeschichte gehört auch die Vergiftungstheorie, die mittlerweile allerdings definitiv ad acta gelegt wurde. Seit 1820 machten sich an der von Haus aus kräftigen Konstitution des Verbannten Verfallszeichen bemerkbar, denen in den letzten Lebensmonaten auch das beträchtliche Embonpoint zum Opfer fiel. Es ging bergab, Napoleon spuckte Blut, konnte über Tage hinweg das Bett nicht verlassen. Die moderne Medizin bestätigt die schon seinerzeit bei der Obduktion festgestellte Todesursache: Napoleon starb an einem in die regionären Lymphknoten metastasierten Magenkarzinom – wahrscheinlich die Spätfolge einer Helicobacter Pylori-Infektion, wie sie angesichts der damaligen hygienischen Verhältnisse weit verbreitet war.
Kein Anlass zum Wohlbefinden
Unbestritten: Zum Wohlbefinden gaben die Umstände dem Verbannten keinen Anlass. Dabei ging es nicht nur um den Verzicht auf den gewohnten Komfort; vielmehr förderte das erzwungene Nichtstun Depressionen und Lebensekel – was auch der kleine aus der Heimat mitgebrachte, zwischen 20 und 30 Menschen umfassende und von internen Eifersuchtsdramen geschüttelte Hofstaat nicht zu beheben wusste.
Immerhin konnte Napoleon etlichen seiner Begleiter – sozusagen seinen „Eckermännern“ – im Rückblick auf sein Leben die eigene Sicht der Dinge nahebringen und im Wissen um deren Weiterverbreitung die Deutungshoheit über seine Person zu gewinnen versuchen. Was auch gut gelang. Das fünfbändige, 1823 erstmal erschienene „Mémorial“ des Comte de Las Cases etwa geriet zu nicht weniger als zum „Evangelium nach Las Cases“. Erneut also die Christus-Anspielung.
Wer das Werk heute liest, macht indes die Erfahrung einer mehrfachen Brechung: Zur Frage, ob die Äußerungen Napoleons in der reportierten Form tatsächlich gefallen sind, gesellt sich die – selbstredend „napoleon-positive“ – Deutungsperspektive des Autors, die sie in einen arrangierten Kontext stellt.
Ein liberal geläuterter Napoleon?
Lange Zeit und teils bis heute hat das Narrativ des „Mémorial“ zumal die Interpretation der „hundert Tage“ bestimmt. Ein liberal geläuterter Napoleon sei aus Elba nach Paris zurückgekehrt, nicht nur bereit, sondern auch überzeugt davon, dass sein diktatorisches Herrschaftssystem zu transformieren und nach dem Gleichheits- auch mit dem Freiheitsversprechen der Französischen Revolution endlich Ernst zu machen sei. Über den Graben von 26 Jahren hinweg habe der Kaiser, so die Großerzählung, einen Bogen spannen wollen – woran er nur durch die revanchelüsternen Konkurrenzmächte gehindert worden sei.
Es gibt viele Gründe, an dieser Selbstdeutung zu zweifeln. Sie wurde allerdings, wie gesagt, schnell wirkmächtig und begründete mit anderen Komponenten jenen Napoleon-Mythos, der mit den historischen Tatsachen nicht mehr viel zu tun hat. Untergegangen im Zeitbewusstsein der Europäer war Napoleon auch nach 1815 nie. In Frankreich allein deshalb nicht, weil die Spuren des Kaiserreichs – eine Erzählung wie Balzacs „Oberst Chabert“ zeigt es schlagend – in der Lebenswelt der neuerlichen Bourbonenherrschaft überall tief eingelassen waren. Und im Ausland? So sehr die Briten „Boney“ gehasst hatten – bald nach dem Ende der großen Kriege etablierte sich auf der Insel ein repräsentativer Napoleon-Fanclub mit dem Romancier Walter Scott an der Spitze. In Deutschland hielt nicht nur, aber auch und sehr prominent Goethe die einschlägige Fahne hoch, und ausgerechnet Heinrich Heine war, wenn es um Napoleon ging, von sentimentalen Anwandlungen nicht frei. In Italien verfasste Alessandro Manzoni, als er die Todesnachricht vernahm, ein umfangreiches Huldigungsgedicht.
Die Banalität der Gegenwart beförderte den Mythos
Warum das alles angesichts einer Existenz, die unsagbares Leid und Elend über ganz Europa gebracht hatte (weil das Todestagsjubiläum im Abstand von nur zwei Jahren auf den 250. Geburtstag folgt, sei an dieser Stelle von einer ausgedehnten biografisch-historischen Nacherzählung abgesehen)? Eine Antwort könnte sein: Die politische Gegenwart von Bourbonenkönigtum und Heiliger Allianz war dermaßen grau, mittelmäßig und banal, dass sich die Sehnsucht nach den großen Zeiten des großen Charismatikers unwiderstehlich in die Herzen fraß.
Die pompöse Rückführung der Gebeine und ihre Bestattung im Pariser Invalidendom 1840 geriet zu einer machtvollen Demonstration des Bonapartismus, die auch die aktuelle Regierung des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe nicht auf ihre Mühlen lenken konnte. Das Ereignis wurde vielmehr zum Ferment einer dritten Französischen Revolution: der von 1848.
Die Weltgeschichte als Tragödie und als Farce
Erst recht wurde der Mythos dann virulent, als Napoleons Neffe Louis-Napoléon als Napoleon III. nach einem Staatsstreich neuerlicher französischer Kaiser wurde. Karl Marx schlug in seiner berühmten Schrift „Der 18. Brumaire des Louis Napoleon“ ausdrücklich eine Brücke zwischen dem ersten und dem dritten Napoleon: Weltgeschichtliche Ereignisse und Personen träten stets zweimal auf – das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce. Diese Diagnose ist umstritten. Kaum bestreitbar aber ist die Erkenntnis, dass der Mythos Napoleon nicht nur Geschichte deutete, sondern seinerseits machte.