„Warten auf Godeau“Bildband fängt Spannung am Straßenrand der Tour-de-France ein

Mûr de Bretagne 2006, Menschen in Erwartung der Teilnehmer der Tour-de-France.
Copyright: DuMont-Verlag/Herman Seidl
Die Menschen am Rand der Straße sind in Bereitschaft. Das stundenlange Warten ist gleich beendet, hinter der Kurve am Horizont naht in jedem Augenblick die Erlösung. Zuvor haben diese Zuschauer, an jenem Tag zufällig an dieser Stelle von der Neugier angezogene Passanten, schon all das erlebt, was so zu erleben ist, bevor die Teilnehmer der Tour de France im eigenen Dorf vorbeirasen. Also die Vorhut. Den Tross dieses Wanderzirkusses, konkret: Eine 150 Fahrzeuge umfassende Kolonne der Werbekarawane, die sich aus Sponsoren des Rennens zusammensetzt.
Aus den bisweilen als Salami, Kuchen oder Wasserflasche verkleideten Autos fliegen Souvenirs der Firmen, die Wartenden sollen ja bleiben und die Zeit auf den Hauptakt verkürzt werden – die Ankunft der Fahrer.
Die Blicke sind nach rechts oder nach vorne gerichtet, die Spannung ist auf diesem Bild sicht- und spürbar, was seine Meisterschaft ausmacht. Gelungen ist es Hermann Seidl, einem österreichischen Fotografen. In seinem bei DuMont erschienenen Bildband „Warten auf Godeau“ hat er sehr viele solcher Fotos vereint, die genau das zeigen: Den Moment, bevor sich die Spannung auflöst, bevor also endlich die Profis auf ihren Rennrädern zu sehen sind.
Ein Sekunden-Vergnügen
An Stellen wie dieser auf dem obigen Foto ist das mitunter ein Vergnügen von ein paar Sekunden, falls das Knäuel der Fahrer beisammen ist. Was aber selten passiert, weshalb die Zuschauer hier, im Juli 2006 an der Mûr de Bretagne im Nordwesten Frankreichs, womöglich in den Genuss eines Zwei-Phasen-Erlebnisses kommen: Ausreißer vorneweg, dahinter das Feld.
Der Titel des Buches ist im Übrigen kein bedauerlicher Rechtschreibfehler. Godeau, Vorname Roger (1920 - 2000), war ein französischer Bahnradsportler. Der Legende nach habe der irische Autor Samuel Beckett ebenfalls einst am Straßenrand einer Tour-Etappe gestanden. Als vermeintlich alle Fahrer die Aufenthaltsstelle passiert hatten, habe sich Beckett gewundert, warum alle Versammelten einfach stehenblieben.
25 Auflagen der Tour de France in 30 Jahren
Worauf sie denn warteten, fragte Beckett einen Nachbarn. Antwort: „Auf Godeau.“ Die Anekdote ist schön, auch wenn Roger Godeau niemals an der Tour teilgenommen hat. Sie rechtfertigt allemal den Namen des Buches, bei dem alle von Seidl fotografierten Menschen warten, zwar nicht auf Godeau oder Godot, dem Beckett schließlich ein Theaterstück widmete. Aber eben auf Godeaus Erben, die tatsächlichen Tour-Teilnehmer.
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Zu denen Seidl als Chronist mit intensiver Bildsprache auch gehört. Innerhalb von 30 Jahren hat er bei 25 Auflagen des größten Radrennens der Welt fotografiert. Das Besondere seines Bildbandes ist die eingefangene Erwartung: In der Ebene, im Dorf, in der Einöde, in den Anstiegen der Pyrenäen und Alpen – niemals sieht man auf den rund 160 Seiten auch nur einen einzigen Radprofi.
Dafür aber die Leidenschaft des Wartens und des Erlösens von einem Tag des langen Herumstehens (oder -sitzens). Ganz nebenbei liefert Seidl auch noch Einblicke – wie auf diesem Bild – auf landestypische Bauweise, auf Landschaften und ganz allgemein auf die Schönheit der Weite Frankreichs.
Hermann Seidl: „Warten auf Godeau“, 160 Seiten, DuMont Buchverlag, 20 Euro