Weihnachten in der klassischen MusikDie größten Weihnachtshits von Bach bis Benjamin Britten

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Aus der Vogelperspektive sieht man das das Orchester und den Chor in der Dresdner Kreuzkirche. Hinter dem Chor sind zwei geschmückte Tannenbäume.

Der Dresdner Kreuzchor präsentiert in Begleitung durch das Orchester der Dresdner Philharmonie in der Kreuzkirche Dresden das Weihnachtsoratorium

Bachs Weihnachtsoratorium war ein Meilenstein der Musikgeschichte. Aber von der Barockzeit bis zur Gegenwart gibt es so einige Stücke, die das Fest der Liebe zum Gegenstand hatten.

Weihnachten in der klassischen Musik – ein weites Feld. Das Geschehen um Engel und Hirten, das Kind in der Krippe, die Weisen aus Morgenland – die Bildmacht der in der Weihnachtsgeschichte transportierten christlichen Zentralbotschaft war auch für die Komponisten stets aufs Neue willkommener Anlass für ihre „Übersetzung“ in Töne. Hinzu kam die liturgische Gebrauchsfunktion der Musik über lange Jahrhunderte – eine Tradition, die erst im 19. Jahrhundert schwächer wurde, indes nicht abbrach.

Bachs Weihnachtsoratorium dürfte den meisten Musikfreunden als Erstes einfallen, wenn sie an „Weihnachten in der Klassik“ denken. Das ist genauso wenig zufällig wie die starke Präsenz des aus sechs Kantaten bestehenden Großwerks im Konzertbetrieb des Jahresendes – vom Laienmusizieren bis zur höchsten Professionalität.

Bachs Weihnachtsoratorium ist ein Meilenstein der klassischen Musik

Bach kompilierte den Zyklus 1734/35 für den Leipziger Weihnachtsgottesdienst weitgehend aus längst Komponiertem. Die Musik erreicht in allen Belangen höchste Qualität und eine spirituell-emotionale Dichte sondergleichen. Die Eindringlichkeit in der Vermittlung der Weihnachtsbotschaft (zumal in den Chorälen) vermag auch in säkularisierten Zeiten tief zu berühren. Was Nietzsche über die Matthäuspassion sagte, gilt auch für das Weihnachtsoratorium: „Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“

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Es hilft nichts, aber nach Bach kommt lange nichts. Dabei war gerade die Barockära – das hing auch mit der in der Idee der „Musica poetica“ begründeten Affinität zur Programmmusik zusammen – eine Hochzeit weihnachtlicher Musik, im katholischen wie im protestantischen Bereich. Auf katholischer Seite etwa zeitigte das Italien jener Jahrzehnte einen gigantischen Ausstoß an einschlägiger Musik, und zwar im vokalen wie im instrumentalen Bereich. Das berühmteste unter den unzähligen „Weihnachtskonzerten“ ist nach wie vor Arcangelo Corellis Concerto grosso opus 6/8, dessen christfestliche Anbindung aber erst in der abschließenden Pastorale manifest wird, einem Stück im wiegenden 12/8-Takt, dessen kreisende, immer wieder von Orgelpunkten grundierte Melodik tatsächlich in einen schlaffördernden Trance-Zustand zu befördern vermag.

Im Vokalbereich sind die – bereits früher entstandenen – ausgezeichneten Weihnachtskantaten Alessandro Stradellas hervorzuheben. In der Kantate „Per il natale“ zum Beispiel wird auf volkstümlich-drastische und zugleich sehr theatralische Weise die Weihnachtsgeschichte erzählt – selbst der Teufel hat hier seinen Auftritt. Das ist fast schon Weihnachtsoper, und die von Stimmen wie Instrumenten (inklusive Trompete) geforderte Virtuosität ist bemerkenswert.

Auch Martin Luther war für Weihnachtslieder prägend

Für das protestantische Mittel- und Nordeuropa sind die Impulse kaum zu überschätzen, die Martin Luther der evangelischen Kirchenmusik überhaupt, aber eben auch der Musikgestaltung des Christfestes vermittelte. Eines der berühmtesten Kirchenlieder überhaupt – „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – stammt aus der Feder des Reformators. Luthers Bibelübersetzung lieferte auch die Grundlage für Heinrich Schütz’ „Historia der Geburt Christi“ – und damit die Bearbeitung des Stoffes durch den bedeutendsten protestantischen Kirchenmusiker vor Bach.

Sie wurde wohl 1660 in der Hofkapelle des sächsischen Kurfürsten zu Dresden uraufgeführt. Bis zu Bachs elaboriertem oratorischen Stil auf der Basis madrigalischer Neudichtungen ist es hier noch weit, indes fördert die „Kargheit“ des Bibelberichts die Konzentration auf den Kern des Geschehens, in das der Hörer ohne die Möglichkeit reflektierender Abstandnahme hineingezogen wird.

Weitere weihnachtliche Kirchenmusik neben Bach

Bachs Weihnachtsoratorium verdunkelt heute die reichhaltige Produktion an weihnachtlicher Kirchenmusik durch Kantoren des mittel- und norddeutschen Raumes vor und nach 1750 (ein später Vertreter dieser Tradition wie Gottfried August Homilius langt mit seinem Sterbedatum bis in die Klassik). Bachs Zeitgenosse Georg Philipp Telemann etwa komponierte 1730/31 in seiner Eigenschaft als Hamburger Musikdirektor gleich drei Weihnachtsoratorien in Kantatenlänge (die die Kölner Akademie unter Michael Alexander Willens 2018 ihrer Ersteinspielung auf CD zuführte). In den Arien singen hier personifizierte Allegorien: der Glaube, die Hoffnung, die Liebe. Das Weihnachtsgeschehen wird auch nicht wie bei Bach berichtet, sondern in Neudichtungen kommentiert. Im Vergleich zu jenem ist Telemann einfacher, weniger dicht, dabei aber herzlich in der Melodik und äußerst flexibel und differenziert in der Formgebung.

Die Wiener Klassik hat Nennenswertes zu Weihnachten nicht beigetragen – was auch damit zusammenhängt, dass ihre Hauptvertreter abgesehen von Mozart in seiner Salzburger Phase beruflich mit der Kirche kaum zu tun hatten. Auf der Suche nach entsprechender Musik muss man da schon in die zweite Liga gehen (der Mozart-Schüler Joseph Leopold Eybler etwa schrieb zu Weihnachten 1794 ein „Die Hirten bei der Krippe“ betiteltes Oratorium). Und in die deutschösterreichische Provinz: Mozarts Salzburger Kollege Michael Haydn etwa komponierte 1775 ein Offertorium „pro Festo Nativitatis Domini“ für Sopran, Chor, Streicher und Continuo. Stilistisch zwischen Spätbarock und Frühklassik angesiedelt, repräsentiert es jene volkstümlich-bildkräftige, formal knappe und auf deutscher, nicht mehr lateinischer Textbasis erstellte Kirchenmusik aus dem Geist der Aufklärung.

Von der Kirche in den Konzertsaal

Die Subjektivierung der Glaubenswelt und die fortschreitende Erosion ihrer institutionell-kirchlichen Basis in der Romantik stellte auch die weihnachtsbezogene Musik auf eine neue Basis. Die gottesdienstliche Anbindung existiert noch im Fall von Felix Mendelssohn Bartholdys für den Berliner Domchor geschriebenen und thematisch teils Advent und Weihnachten gewidmeten „Sechs Sprüchen“ opus 79. Auch wenn der Komponist seinen eigenen sehr spezifischen Melodiegestus durchaus nicht verleugnete, so machte er in diesen doppelchörigen Sätzen doch Anleihen bei einem historisierenden Palestrinastil. Eine (Technik-)Kopie ist auch Peter Cornelius’ geistliches Lied „Drei Kön’ge wandern aus Morgenland“, das nach Art des Bach’schen Tropierungsverfahrens vom Choral „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ kontrapunktiert wird. Die Liedmelodie zeigt indes: Hier bemächtigt sich des „Weihnachtsstoffes“ ein gefühliger Ton, der direkt ins Biedermeier-Wohnzimmer führt.

Und es entsteht großdimensionierte oratorische Weihnachtsmusik, die sich ihrer Aufführung in der Kirche nicht verschließt, aber genauso gut für den Konzertsaal eignet. In Hector Berlioz’ Oratorium „L’enfance du Christ“ hat sich die im engeren Sinn spirituelle Substanz bis zur Unkenntlichkeit verdünnt – obwohl der Komponist mit Fuge und Kirchentonarten erkennbar die Anlehnung an die Tradition sucht.

Näher an einer dezidiert katholischen Sphäre befindet sich der gläubige Camille Saint-Saëns mit seinem zu Weihnachten 1858 in der Pariser Madeleine uraufgeführten „Oratorio de Noël“. Das textlich aus Vulgata und lateinischer Weihnachtsliturgiezusammengestellte Werk sieht eine Besetzung aus fünf Vokalsolisten, Chor, Streichern, Harfe und Orgel vor – die „diesseitigen“ Bläser sind ausgespart. Die Orgel sorgt für einen ausgeprägten Sakralton, vorherrschend ist – wie auch in Joseph Gabriel Rheinbergers Weihnachtskantate „Der Stern von Bethlehem“ von 1890 – eine lyrisch-kontemplative Grundstimmung.

So wird auch moderne Musik alt

Ausdrücklich als „Kirchen-Oratorium“ bezeichnete der Brahms-Freund Heinrich von Herzogenberg sein 1894 in der Straßburger Thomaskirche erstaufgeführtes Werk „Die Geburt Christi“. Mit bekannten Advents- und Weihnachtsliedern, mit Kinderchor zur Hirtenszenerie und mit in den Ablauf integrierten Gemeindeliedern erstand hier ein Weihnachtsoratorium „for the people“ – wobei die vorgebliche Simplizität sich einer beträchtlichen Kunstanstrengung verdankte. Die erstrebte Selbstverständlichkeit und Unmittelbarkeit – sie war eine aus zweiter Hand. Da hatte die Weihnachtsmusik definitiv ihre „Unschuld“ verloren.

Anders als auf dem Kontinent hatte sich auf der britischen Insel die institutionelle Verflechtung der Chormusik mit der Liturgie der anglikanischen Hochkirche bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten. Diese Verbindung wirkte auch, wenn ein Werk – wie in diesem Fall Benjamin Brittens „Ceremony of Carols“ (1942) – nicht explizit für den Gottesdienst bestimmt war. In der Londoner Wigmore Hall 1943 uraufgeführt, entfaltet das Stück seinen ganzen Zauber erst in der Akustik der englischen Kathedralgotik. Ursprünglich hatte Britten eine Reihe Lieder geplant, die später zu einem geschlossenen Werk zusammengeführt wurden. Den Rahmen gibt das einstimmige„Hodie Christus natus est“, das der Chor zum Ein- und Auszug intoniert.

Was sich bereits bei Mendelssohn zeigte, setzt sich hier fort: Wenn eine Glaubenspraxis ihre lebensweltliche Selbstverständlichkeit eingebüßt hat, hilft ihren künstlerischen Ausdrucksformen allemal die Rückversicherung bei der Tradition. Im Kontext von Weihnachten also wird auch moderne Musik „alt“.

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