Wenig Kunst, viel Antisemitismus?Die Halbzeitbilanz der umstrittenen Documenta

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Das Banner von Taring Padi wird abgebaut,

Köln – An diesem Wochenende wird die 15. Documenta 50 Tage alt, das Kasseler Weltkunstfestival hat also die Halbzeit seiner 100 Ausstellungstage erreicht. Anders als bei den vorhergehenden Ausgaben ist diese Feststellung nicht banal, nachdem mit der FDP sogar eine Regierungspartei gefordert hatte, das Festival bis zur Klärung sämtlicher Antisemitismus-Vorwürfe zu schließen.

Stattdessen verlor die Documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann ihr Amt und wurde durch den erfahrenen Kulturmanager Alexander Farenholtz ersetzt. Seitdem hat sich die Kommunikation der Documenta spürbar professionalisiert. An Schärfe hat die Debatte deshalb aber nicht verloren.

Farenholtz hält an der Politik der umstrittenen Sabine Schormann fest

Das liegt einerseits in der Natur der Sache, aber auch daran, dass Farenholtz im Grunde die Politik seiner Vorgängerin fortführt. Auch Farenholtz lehnt es ab, der künstlerischen Documenta-Leitung, dem indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa, die Entscheidungshoheit über die Documenta zu entziehen und diese an einen externen Expertenrat zu delegieren; auch Farenholtz verwehrt sich gegen den Generalverdacht, die Documenta sei ein Forum für Antisemitismus, weshalb sämtliche dort ausgestellten Werke und Archivalien auf den Prüfstand unabhängiger Fachleute gehörten; und auch Farenholtz sieht offenbar einen eklatanten Widerspruch zwischen der Documenta-Wirklichkeit vor Ort und dem Bild, das in vielen Medienberichten vom Festival gezeichnet wird.

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Alexander Farenholtz, Geschäftsführer der Documenta

Es liegt tatsächlich nahe anzunehmen, dass einige Kritiker der Documenta fifteen diese nur vom Hörensagen kennen – oder ihre journalistischen Maßstäbe der Lust an der Polemik geopfert haben. Die auf „Spiegel Online“ lancierte Wortschöpfung „Antisemita“ ist dafür das Paradebeispiel, aber auch der immer wieder zu lesende Vorwurf, Ruangrupa habe den israelisch-palästinensischen Konflikt bewusst in der Fokus der Documenta gerückt, lässt sich vor Ort nicht halten. Unter den Tausenden ausgestellten Arbeiten ist die israelische Palästinapolitik allenfalls ein Randaspekt. Die öffentliche Debatte kreist um drei Werke, die höchst unterschiedliche Bewertungen erfahren haben; die Documenta-Leitung sieht keinen Grund, sie zu entfernen.

Teilweise lassen sich die Zuspitzungen der Diskussion mit dem zentralen Skandal der Documenta erklären: dem 20 Jahre alten Wimmelbild „People’s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, das zwei antisemitische Karikaturen enthält. Wie es geschehen konnte, dass diese riesige, nach öffentlichen Protesten wieder abgebaute Arbeit im Herzen der Documenta installiert wurde, ist im Detail immer noch nicht geklärt. Aber es gibt keinen triftigen Grund, dahinter eine politische Agenda zu vermuten – wahrscheinlich war es einfach ein Versehen, so schwer dies auch zu akzeptieren ist. Ruangrupa sprach von einem kollektiven Versagen, diejenigen, die es hätten wissen können, Taring Padi, gaben in bestürzender Offenheit zu Protokoll, dass judenfeindliche Klischees für sie ein Stilmitteln unter vielen und nichts Skandalöses seien.

Seit dem Abbau von „People’s Justice“ konzentriert sich die Debatte auf die Frage, ob die Documenta als Ganzes antisemitischen Tendenzen Vorschub leistet oder versucht, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Beides wären gewichtige Anschuldigungen, die sich allerdings nicht an Ruangrupa festmachen lassen. Im Gegenteil: Das Kuratorenkollektiv hat sich in eindeutigen Worten von jeder Form des Antisemitismus distanziert, und die erstmals im Januar gegen Ruangrupa erhobenen Antisemitismus-Vorwürfe ließen sich nie erhärten. Letzteres hat viele Documenta-Kritiker nicht davon abgehalten, diese Vorwürfe ungeprüft zu übernehmen und zuzuspitzen, lange bevor die Ausstellung überhaupt eröffnet wurde.

Selbst die gegen die Documenta präsentierten Indizien ließen sich mehrheitlich nicht halten. Etwa die Anschuldigung, man habe bewusst keine jüdischen Künstler eingeladen und ein jüdisches Künstlerkollektiv nach Protesten anderer Documenta-Teilnehmer wieder ausgeladen. Auch die angebliche Nähe Ruangrupas zur „israelkritischen“ BDS-Kampagne lässt sich nicht belegen, und die Sichtung einer internen Mitarbeiter-Schulung der Documenta ergab vornehmlich, dass die Veranstalter das Thema Antisemitismus vor Eröffnung der Ausstellung für keines gehalten haben.

Auf der Suche nach dem antisemitischen Geist der Documenta 

Dass die „FAZ“ der Leiterin dieser Online-Schulung, Emily Dische-Becker, kurz darauf vorwarf, sie habe jahrelang in einer der terroristischen Hisbollah nahestehenden Zeitschrift publiziert (was Dische-Becker vehement bestreitet), zeigt eindrucksvoll, dass sich die Suche nach dem antisemitischen Geist der Documenta mittlerweile bis in die Bereiche externer Hilfskräfte verzweigt.

In gewisser Hinsicht hat Ruangrupa erreicht, was es wollte. Seine Documenta sollte keine gewöhnliche Kunstausstellung sein, sondern ein Debattenort, in dem unterschiedliche Welten über das gemeinsame Leben in der postkolonialen Welt ins Gespräch kommen. Allerdings hat sich die Debatte darüber, welche Lehren aus den imperialistischen Verbrechen des Westens zu ziehen wären, in Kassel auf die Frage verengt, inwiefern antisemitische Klischees im Gewand der postkolonialen „Israelkritik“ wieder auferstehen. Dies ist einerseits nicht erstaunlich, weil Israel für viele postkoloniale Denker tatsächlich ein Überbleibsel des europäischen Kolonialismus zu sein scheint. Andererseits stellt die Documenta für diese Denker eben kein machtvolles Sprachrohr bereit.

Es spricht derzeit leider wenig dafür, dass sich die Debatte im Lauf der zweiten Documenta-Hälfte versachlichen wird. Dabei gäbe es vieles zu bereden, selbstredend auch, ob das mörderische Gift des Antisemitismus tatsächlich gerade wieder „normalisiert“ wird. Und wie bei jedem zivilisierten Gespräch sollten dabei gewisse Grundvoraussetzungen gelten. Etwa, dass man sein Gegenüber nicht „einfach so“, ohne Belege, einen Antisemiten nennt. 

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