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Wenn das Leben aus der Spur gerät

Lesezeit 3 Minuten

Ayelet Gundar-Goshen wurde 1982 in Tel Aviv geboren, sie ist eine immer noch junge Autorin, die gleichwohl bereits drei viel beachtete Romane veröffentlicht hat. Ihr jüngstes Werk, „Lügnerin“, ist in diesem Jahr das „Buch für die Stadt und für die Region“, der gemeinsamen Leseaktion von „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Literaturhaus. 2012 erschien ihr Debüt, „Eine Nacht, Markowitz“, das den israelischen Sapir-Preis für das beste Erstlingswerk erhielt und für die BBC verfilmt werden soll. „Löwen wecken“, der Nachfolger, ist ebenfalls preisgekrönt, und auch dieses Buch ist als Vorlage für eine Fernsehserie in den USA und in Israel im Gespräch. Ein großer Erfolg für eine noch kurze Karriere, viel Beachtung für jemanden, der sich lange Zeit und ganz besonders in der Schule als Außenseiter empfand.

Dieses Gefühl hat die Autorin mit Nuphar gemeinsam, der sehr unheroischen Heldin ihres Romans „Lügnerin“, die den Ferienjob hinter der Theke einer Eisdiele aus vollem Herzen hasst. Außerdem findet sie sich zu pummelig, zu sommersprossig und zu unscheinbar für die Jungs in der Schule, die bald wieder beginnt und wie ein Alptraum vor Nuphar steht: Diese Protagonistin, obwohl ein wohlbehütetes Familienkind, steht am Spielfeldrand. Und vielleicht ist es gerade ihre wohlbehütete Existenz und die ihrer Schwester, vor der sie sich notorisch benachteiligt fühlt, dass sie sich selbst als einen einzigen Ausbund von Langeweile empfindet.

Mitten aus der bürgerlichen Gesellschaft zu kommen und sich doch in der Rolle eines Außenseiters wiederzufinden, diese Erfahrung macht auch Eitan, der ebenfalls unspektakuläre Charakter in „Löwen wecken“. Ayelet Gundar-Goshen hat ein besonderes Gespür für Situationen, in denen das gewohnte Leben plötzlich aus der Spur gerät – darin schlägt mutmaßlich die Psychologin durch, die sie hauptberuflich immer noch ist. Sie ist eine Chronistin der durchkreuzten Routine.

In „Löwen wecken“ ist es ein Verkehrsunfall, den der Arzt Eitan mit seinem SUV nachts auf einsamer Wüstenpiste verschuldet. Eitan begeht Fahrerflucht, doch der Tod des afrikanischen Einwanderers holt ihn unausweichlich ein und bringt sein bisheriges geordnetes Dasein durcheinander: Wieder sind es Figuren vom Rand der Gesellschaft, die unversehens in den Mittelpunkt rücken. „Löwen wecken“ zeigt nicht zuletzt Ayelet Gundar-Goshens Sensibilität für soziale Benachteiligung und Schieflagen, die sich auch in „Lügnerin“ niederschlägt. Hier ist es eine Mizrahi, eine Angehörige der aus dem Nahen Osten oder Afrika stammenden Bevölkerungsgruppe in Israel, die sich als zweite Lügnerin zu Nuphar gesellt – nicht, um sich mit einer erfundenen Holocaust-Geschichte wichtig zu machen, sondern um bei den europäischen Ashkenazi Anerkennung und Respekt zu finden.

„Eine Nacht, Markowitz“ schließlich ist Ayelet Gundar-Goshens historischer Roman, wenn man so will. Eine Geschichte, die noch vor der israelischen Staatsgründung im britischen Mandatsgebiet Palästina sowie in Europa beginnt und sich voran arbeitet durch die zunächst apokalyptischen und später durch Entbehrung geprägten Zeiten. Auch dieser Roman wird wieder erzählt aus der Sicht eines Underdogs, des einsamen und bei den Frauen verzweifelt erfolglosen Markowitz, der wie Nuphar einen moralischen Fehltritt begeht: Er weigert sich, eine Scheinehe aufzulösen, die seine Frau wie viele andere nur deswegen eingegangen ist, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Im Interview formuliert Ayelet Gundar-Goshen, was ihr an diesen Figuren und also an ihrem Schreiben wichtig ist: „Was bringt Menschen dazu, so zu sein, wie sie sind? Es geht nicht darum zu urteilen, sondern zu verstehen.“ Am kommenden Sonntag beginnt die Aktion „Buch für die Stadt“ mit einer Matinee im Kölner Schauspielhaus, bei der die Autorin selbst zu Gast ist.

Ayelet Gundar-Goshen