Zeruya Shalevs Roman „Nicht ich“Liebe ist die gefährlichste Krankheit von allen

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Der Debütroman der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Der Debütroman der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Der Debütroman der berühmten israelischen Autorin ist 30 Jahre nach seinem Erscheinen nun erstmals auf Deutsch herausgekommen.

Am Ende fühlt man sich, als sei man aus einem wilden Traum erwacht. Ein Albtraum? Vielleicht. An vielen Stellen ganz sicher. Vor allem aber ein wilder, grotesker, oft auch sehr komischer, immer atemloser Lauf durch den Kopf einer jungen Frau. Ihr Name? Da fängt das Dilemma schon an. Angeblich haben ihre Eltern ihr keinen gegeben, mal nennt man sie Galia, mal Varda, mal Nurit. Aber eigentlich ist das auch nicht so entscheidend, denn sie weiß ja selbst nicht, wer sie ist. Der deutsche Titel des Debütromans der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev, der nun erstmals auf Deutsch erschienen ist, gibt die Richtung vor: „Nicht ich“. 

Die 64 Jahre alte Shalev ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Israels. 1991, als sie in einem Café auf einen Autor wartete, dessen Buch sie lektorierte, war sie eine junge Mutter, die bis zu diesem Zeitpunkt Lyrik verfasst und veröffentlicht hatte. Sie hat nicht geplant, einen Roman zu schreiben. Aber weil der Autor auf sich warten ließ, begann sie auf der Rückseite seines Manuskripts diese Geschichte aufzuschreiben. Sie glaubte, es werde ein Gedicht, doch die Sätze wurden immer länger. „Sie war nicht ich, aber sie schrie, wie gesagt, aus mir heraus, in einem wilden und gnadenlosen Monolog, einer Art Seelenstrip oder Stand-up-Tragödie“, beschreibt Shalev es im Vorwort. 

Bei der Kritik fiel das Debüt anfangs durch

Als der Roman 1993 erschien, fiel er bei der Kritik in ihrem Heimatland durch. Zu aggressiv und radikal waren diese wilden Assoziationsketten. Eine klassische, aufeinander aufbauende Handlung sucht man in „Nicht ich“ vergebens. Sollte man beschreiben, worum es geht, lässt sich mit Sicherheit - vermutlich - nur eines sagen: Eine junge Frau hat ihren Mann und ihre Tochter für ihren Geliebten verlassen, doch mit diesem hat sie auch kein Glück. Ihre Ängste, Selbstvorwürfe und Schmerzen schreit sie nun in die Welt hinaus. Mal ist sie verletzlich, mal brutal, immer sperrig. Schreibt sie über Sex, ist es immer explizit, oft auch vulgär. Sigmund Freud hätte an ihr sicher aus vielen Gründen seine helle Freude.

Kann man ihren Schilderungen glauben? Ganz sicher nicht. Die Wahrheit und sie seien noch nie gut miteinander ausgekommen, lässt sie uns wissen, „schwer zu sagen, wer mehr Angst vor wem hatte, ich vor der Wahrheit oder sie vor mir“. Und wie sollen diese Geschichten auch wahr sein? Da geht die Frau mit ihrem Mann zu einem Heiler, einem Greis mit zitternden Händen, der ihnen helfen soll. Als sie ihn verlassen, ist der Mann schwanger und sie hat keine Gebärmutter mehr.

Ein anderes Mal geht die Kuckucksuhr ihrer Eltern kaputt. Und plötzlich wird der Vater zum Kuckuck, sein Kopf schaut zur vollen Stunde aus dem Arbeitszimmer und er ruft „Alle werden sterben“, so oft, wie es die Stunde geschlagen hat. Und hat ihre Mutter nach der Hochzeit wirklich einen jungen Mann beauftragt, sie gegen Bezahlung zu entjungfern? Wer weiß das schon? 

Die einzige Konstante in dieser Geschichte ist der Verlust

Die Icherzählerin befreit sich aus den starren Konventionen, die ihr die Gesellschaft für ihr Leben vorgeben will. Aber sie ist nicht frei. Dabei bleibt offen, was ihr mehr zu schaffen macht, die Selbstvorwürfe oder der vorwurfsvolle Blick, den alle um sie herum auf sie richten. Die einzige Gewissheit, die einzige Konstante in dieser Geschichte ist der Verlust. Er ist der Faden der sich ansonsten oft widersprechenden, surrealen Handlung. 

Vor allem der Verlust der Tochter macht ihr zu schaffen, auch wenn die Zweifel bleiben, ob es diese Tochter überhaupt jemals gab. Es sind die Passagen, in denen es um ihr Verschwinden geht, die heute, mehr als 30 Jahre nach Erscheinen des Romans, eine fast schon beängstigende Aktualität haben.

Schon lange hatte sie erwartet, dass etwas Schreckliches geschehen würde. Dann wird das Mädchen entführt und über die Grenze gebracht. Sie hatte den Kindergarten in Verdacht: „Zu viele unterirdische Gänge führen zu diesem Kindergarten, da laufen mir zu viele Menschen rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind“, hatte sie zu ihrem Mann gesagt. Wer denkt da nicht an den schrecklichen Terror des 7. Oktober? An verschleppte Geiseln in Tunneln der Hamas? Auch die Ich-Erzählerin selbst wird verschleppt und in unsinnigen Verhören stundenlang befragt.

Die Traumata einer Nation verfolgen auch die Icherzählerin

Nun verfügt Zeruya Shalev, die jüngst bekannte, seit dem Angriff der Hamas sei sie in ihrer literarischen Arbeit gelähmt, natürlich nicht über hellseherische Fähigkeiten. Aber neben den persönlichen Traumata sind es eben auch die Erfahrungen einer Nation, die sich tief in das Bewusstsein ihrer Icherzählerin eingegraben haben. 

Der „FAZ“ sagte sie gerade in einem Interview, einige Entführungen aus den Siebzigerjahren hätten sie stark beeinflusst. „Nach der Geburt meiner Tochter lagen auf meinem Bett im Krankenhaus die Zeitungen, die vom Ausbruch der ersten Intifada berichteten. Das Sicherheitsgefühl war erschüttert.“ Später musste sie ihrer dreijährigen Tochter wegen der Bedrohung durch chemische Waffen im Golfkrieg eine Kindergasmaske besorgen. Wer hätte da keine Albträume?

2004 wurde Shalev bei einem Selbstmordattentat eines Palästinensers in Jerusalem schwer verletzt. Sie hat sich dennoch immer für die Verständigung von Israelis und Palästinensern eingesetzt, ist in den vergangenen Jahren eine entschiedene und laute Kritikerin der Regierung von Benjamin Netanjahu gewesen. 

Die Familie in „Nicht ich“ lebt in einem Depot, also einem Lager. Es ist ein gespenstischer Ort und ganz sicher kein sicheres Heim. Als sie eines Tages dorthin zurückkehrt, lebt dort ein junges, frisch vermähltes Ehepaar. „Wissen Sie, dass hier früher mal der Tempel stand?“, fragt sie die beiden. Alles hat eine komplizierte Geschichte in diesem Land, in diesem Roman.

Das Fazit der Icherzählerin klingt wenig hoffnungsvoll. Liebe ist die gefährlichste Krankheit von allen, ist sie überzeugt. Aber ohne sie werden wir eben auch nicht glücklich. Das führt uns „Nicht ich“ so eindrücklich wie schmerzhaft vor Augen.


Zeruya Shalev ist bei der lit.Cologne zu Gast. Der Abend mit ihr findet vor dem eigentlichen Festival am 2. Februar, 19.30 Uhr, im Schauspiel Köln statt. Maria Schrader, die ihren Roman „Liebesleben“ verfilmt hat, wird aus „Nicht ich“ lesen. Shelly Kupferberg moderiert. Die Veranstaltung ist ausverkauft.

„Nicht ich“, deutsch von Anne Birkenhauer, Berlin Verlag, 208 Seiten, 24 Euro, E-Book: 19,99 Euro.

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