Kölner TheaterlegendeEin Jahr nach seinem Tod erzählt Jürgen Flimm alles

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10.12.2020, Köln: Interview mit der Theaterlegende Jürgen Flimm. Er inszeniert Don Carlos im Kölner Schauspiel.

Foto: Csaba Peter Rakoczy

Jürgen Flimm bei den Proben zu „Don Karlos“ im Mülheimer Depot im Winter 2020

Kein Kölner Theatermacher war erfolgreicher: In seinen Erinnerungen hat Jürgen Flimm, 2023 mit 81 Jahren gestorben, viel zu berichten. 

Wie Hannibal über die Alpen, so zog Jürgen Flimm im Jahr 1979 in Köln ein. Mit drei Elefanten, die er durch die Schildergasse treiben ließ, auf ihren breiten Rücken große Reklameschilder für das Eröffnungsfest im Schauspielhaus. Ausgerechnet bei Brecht, in dessen Kleinem Organon, hatte der neue Herr am Offenbachplatz eine Antwort auf die Frage nach der nobelsten Funktion des Theaters gefunden: „Das Vergnügen, pur und simpel.“

Nun waren die Produktionen, die Flimm als Regisseur inszenierte oder als Intendant auf den Weg brachte, alles andere als simpel. Doch die Lust am Spielen und am Welten erschaffen, die stand bei ihm, dem glücksbegabtesten Theatermacher dieser Stadt, stets im Vordergrund. Und diese oft schelmische Spiellust, die spürt man auf jeder der 350 Seiten seiner Erinnerungen. Die sind nun, knapp ein Jahr nach seinem Tod im Alter von 81 Jahren, bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, unter dem einer Bach-Kantate entliehenen Titel „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“. Er wäre auch zwei Zeilen weiter fündig geworden: „Ohne Furcht und Heuchelei“.

Jürgen Flimm trinkt mit Roman Polański, singt mit Cecilia Bartoli und hilft Angela Merkel über einen Gully

„Erinnerungen“, keine Autobiografie. Im Großen und Ganzen hangelt sich Jürgen Flimm zwar an den bekannten Stationen seines Berufslebens entlang, von den ersten Erfahrungen in der Kölner Studiobühne und im Theater am Dom, zur Regieassistenz an den Münchner Kammerspielen und von dort aus steil bergauf: Oberspielleiter und später langjähriger Intendant am Thalia Theater, dazwischen die Kölner Intendanz, Leiter der Ruhrtriennale und der Salzburger Festspiele, der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Dazu Regietriumphe wie sein „Fidelio“ der New Yorker Metropolitan Oper und der Ring-Zyklus im Hexenkessel von Bayreuth. Und auch einige charakterbildende Misserfolge.

Aber im Kleinen schweift der Vielbeschäftigte immer wieder mit größter Fabulierlust ab, springt wild durch die Zeiten, nimmt erzählerische Um- und Abwege. Und sei es nur, um noch einen Prominenten zu erwähnen, mit dem er gelacht, gestritten oder sich verschworen hatte. Diese im Redefluss fallen gelassenen Namen bilden zusammen so etwas wie ein Who's Who der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Mal gesellt sich „Roman Polański mit seiner attraktiven Frau Emmanuelle Seigner“ zur fröhlichen Runde im Pariser Coupole, mal drängt Flimm Tom Waits über Nacht noch zwei neue Songs für den „Black Rider“ zu schreiben, lässt sich von Cecilia Bartoli ein Ständchen singen, hilft Angela Merkel über einen Gully hinweg oder geleitet Paul Simon auf die Premierenfeier von „Time Rocker“, wo dieser einen verdutzten Lou Reed mit Komplimenten überhäuft.

Regisseur Jürgen Flimm in seiner Wohnung in Köln

Director Jürgen Flimm in his Apartment in Cologne

Regisseur Jürgen Flimm in seiner Wohnung in Köln in den 1980er Jahren

Der rastlose Netzwerker ist überall, als Münchener Assistent an der Seite eines genial vor sich hin wütenden Fritz Kortners und als Kölner Schauspiel-Chef am Arm von Bianca Jagger, die, schwärmt Flimm, „schönste Frau, die je auf unseren Brettern gestanden hatte“. Luigi Nono fordert den erfahrenen Opernregisseur in einer venezianischen Gasse auf, die Augen zu schließen, um die Sinfonie der Lagune zu genießen, und Karlheinz Stockhausen gibt dem jungen Kulturliebhaber auf einer Fluxus-Mitmachveranstaltung einen Rat, den dieser fürs ganze Leben beherzigt: „Et Beste wär, du machst, wat de willst!“

In dieser Häufung sollte Flimms manisches Namedropping eigentlich unerträglich eitel wirken, tatsächlich möchte man dem Bühnengiganten bestenfalls ein paar Adjektive streichen, entschieden zu viele Kollegen werden hier als „klug“, „hochbegabt“ oder „genial“ ausgerufen – auch wenn das im Theateralltag ein Teil von Flimms Erfolgsgeheimnis gewesen sein mag.

Et Beste wär, du machst, wat de willst!
Karlheinz Stockhausen zu Jürgen Flimm

Aber das Personal dieser Erinnerungen besteht nicht allein aus Staatslenkern und Großkünstlern. Verwandte, Kinder, Bühnenarbeiter werden ebenso namentlich erwähnt und zärtlich belobt. Dazu stoßen noch Leonce und Lena, Ödipus und die Jungfrau von Orleans, denn das Interesse des Theaterarzt-Sohnes gilt – schreibt Sven Eric Bechtolf im Vorwort – den Menschen auf der Bühne, den Darstellern ebenso wie ihren Figuren. Sie alle werden hier Teil des „Kasperletheater Jürgen“, das Flimm als Junge auf dem Dachboden des elterlichen Hauses in Köln-Dellbrück betrieben hatte. Sein erstes kleines Theaterreich, blaue Bude, roter Vorhang, 10 Pfennig kostet der Eintritt zu dieser Wunderwelt, die Einnahmen werden sofort in die Erweiterung des Puppenensembles investiert.

Wenn dann, rund 30 Jahre später, die gesamte Heimatstadt zu seinem „Abenteuerspielplatz“ wird, weht der frische Wind von damals noch einmal durch die Erinnerungsseiten. Zuerst ist es „ein eigentümliches Gefühl: Da verliebt sich deine geliebte Frau in einen dummen Grinsekater, und schon bist du Intendant im heiligen Köln!“

Doch bald spielt der frisch Geschiedene umso freier auf, verbandelt sich mit den Besetzern der Schokoladenfabrik Stollwerck und der Musikszene – auf dem elefantös beworbenen Eröffnungsfest spielen sowohl Niedecken als auch Grönemeyer –, lässt Willy Millowitsch das erste Pittermännchen anschlagen, holt mit Katharina Thalbach und Jürgen Gosch die größten Talente des Ostens und mit Robert Wilson und Laurie Anderson die Avantgarde aus New York an den Rhein. Außerdem eckt der quirlige Möglichmacher so lange bei der bräsigen Stadtspitze an, bis die ihn nur allzu gerne an die Alster ziehen lässt. Schön dumm!

Jürgen Flimm verabschiedet sich mit der „Jungfrau von Orleans“ aus Köln. 35 Jahre später inszeniert er noch einmal am hiesigen Schauspiel, wieder Schiller, „Don Karlos“ im Mülheimer Depot, ein bündiger Abschluss auf der protestantischen Schäl Sick seiner Kindheit. Aber davon ist im Buch nicht die Rede. Stattdessen berichtet er abschließend vom Tod seines neugeborenen Sohnes, zwischen Münchener Premiere und Hamburger Engagement.

Bereits im Prolog hat er erzählt, wie die geliebte Oma durch seine kindliche Gedankenlosigkeit zu Fall kam. Die fieberhafte Spiellust hat ihren Preis, Jürgen Flimm begegnet ihm in seinen Erinnerungen ohne Furcht und Heuchelei, auch das macht ihm zu einem Granden der Darstellenden Kunst.

Jürgen Flimm: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“, Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 26 Euro

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