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Zum Tod von Sly StoneDer Mann, der die 60er Jahre begrub

Lesezeit 4 Minuten
Sly Stone trägt einen goldlaminierten Anzug. Er sitzt vor einem Mischpult und hat den Mund lachend weit geöffnet.

Sly Stone im Jahr 1970 in seinem Heimstudio in Los Angeles.

Mit seiner Band Sly and the Family Stone erfand Sly Stone Ende der 1960er die Funk-Musik. Jetzt ist er mit 82 in Los Angeles gestorben.

Das aufwühlende, gewalttätige Jahr 1968, das Jahr des My-Lai-Massakers und der Black Panther, das Jahr, in dem Martin Luther King Jr. ermordet wurde, ist fast zu Ende, als Sly and the Family Stone in der Ed Sullivan Show auftreten. Sie spielen ein Medley ihrer bis dato größten Hits, kulminierend in der Absichtsbekundung „I Want to Take You Higher“. Während der Rest der Band weitergroovt, springt Sly Stone vom Klavierschemel, nimmt seine Schwester Rose an der Hand und rennt mit ihr auf die Zuschauertribüne.

Der Kontrast könnte kaum größer sein: Sly mit Riesenafro und ärmelloser Fransenweste, Rose in ihrer platinblonden Ufo-Perücke tanzen frenetisch im Gang, während sich links und rechts von ihnen akkurat frisierte Herren in Anzug und Krawatte peinlich berührt in ihren Sitzen winden. Aber dann geschieht das Wunder, ein älterer Herr im schwarzen Jackett dreht lachend seinen Kopf zum Geschwisterpaar, klatscht begeistert im Rhythmus mit, auch die Gesichter um ihn herum hellen sich jetzt auf.

Sly Stone transformierte Soul, Rock und Gospel zum Funk von Übermorgen

Für einen Augenblick scheint es, als wäre die TV-glotzende Mehrheitsgesellschaft gemeinsam mit dem extravaganten Star auf eine höhere Bewusstseinsebene gesprungen. Ausgerechnet in der Fernsehshow, die Elvis Presley nur von der Hüfte aufwärts zeigen wollte.

Die Familie, die Sly Stone zusammengestellt hat, ist selbst gelebte Utopie. Hier spielen, damals alles andere als gewöhnlich, Männer und Frauen, schwarze und weiße Musiker gleichberechtigt zusammen, und was sie spielen, ist nicht weniger integrativ und im damaligen Popgeschäft unerhört, ist nicht Soul, nicht Rock, nicht Gospel, nicht Psychedelik, sondern der all diese Einflüsse transformierende Funk von Übermorgen, wie ihn erst zehn, 15 Jahre später Prince wieder aufgreifen wird.

Schon als er in jungen Jahren in seiner Heimatstadt San Francisco als Radio-DJ bei einem Soul-Sender arbeitete, galt seine Musikauswahl als unberechenbar; von der real existierenden Rassentrennung der Genres hielt er nun wirklich gar nichts. „A Whole New Thing“ hatte Sly Stone das 1967er-Debüt seiner Band genannt. Zuerst blieb der Erfolg aus, das Publikum war von so viel Neuem überfordert. Die Plattenfirma musste ihn überreden, es erst einmal mit einem simpleren, poppigeren, der erprobten Motown-Formel folgenden Sound auszuprobieren. Die Band stöhnte über die unhippe Single „Dance to the Music“ – aber über ihren ersten Top-Ten-Hit freute sie sich doch.

Ein Jahr später hatte die Welt endlich aufgeholt, mit ihrem mittlerweile vierten Album „Stand!“ konnten Sly and the Family Stone den ersten großen Wurf nach eigenen Vorstellungen veröffentlichen – und es verkaufte sich blendend. Die Single „Everyday People“ wurde Sly Stones erste Billboard-Nummer-Eins – ein erneutes Plädoyer für Frieden und Gleichheit zwischen den Ethnien und sozialen Gruppen. Die B-Seite, „Sing a Simple Song“, erwies sich als noch einflussreicher, Künstler von Dusty Springfield bis Diana Ross coverten den Song, Miles Davis improvisierte auf seinem „Tribute to Jack Johnson“-Album schier endlos über sein Gitarren-Riff, später sampelten ihn Hip-Hop-Größen von De La Soul bis zum Wu-Tang Clan.

Triumphaler Auftritt beim Woodstock-Festival

Nach einem triumphalen Auftritt beim Woodstock-Festival (um halb vier Uhr morgens!) schienen die kühnsten Ziele erreicht, aber deren Erfüllung markierte zugleich den spektakulären Kollaps von Sly Stones Utopie. Während die Jugend auf Max Yasgurs Bauernhof das gewaltfreie Zusammenleben übte, beendete an der Westküste der USA eine andere Familie den Traum der Sixties mit einer Blutorgie: Die Zukunft hieß Manson, nicht Stone.

Die Zustände in Slys Heimstudio in Los Angeles, in dem er sich von Gangstern bewacht verschanzte, spiegelten die nach den Manson-Morden grassierende Paranoia. Der Hohepriester der Inklusivität war Kokain und PCP, „Angel Dust“, verfallen, die Aufnahmesessions wurden zu einem endlosen Albtraum aus drogenbefeuerten Improvisationen. Stone schichtete Spur auf Spur, löschte, verwischte den Sound mit viel zu vielen Overdubs. Die Familie fiel auseinander und genau so klangen auch die Aufnahmen, die schließlich Ende 1971 unter dem zutreffenden Titel „There's A Riot Goin' On“ erschienen, das dunkle Gegenstück zum hoffnungsfrohen „Stand!“ – aber auch ein Album, das den langen Kater der 1970er und den Nihilismus und Zynismus, die auf ihn folgten, einfing wie kein zweites.

Im Höllensturz war dem Mann, der uns alle höher heben wollte, sein eigentliches Meisterwerk gelungen. Sly Stone veröffentlichte weitere Alben, doch mit stetig schrumpfenden Erträgen, sein Auftreten galt als erratisch, zeitweise war er obdachlos, seine Sucht hatte ihn fest im Griff. „Summer of Soul“, die Oscar-gekrönte Dokumentation von Ahmir „Questlove“ Thompson brachte ihn und seine Vision noch einmal zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit; der The-Roots-Drummer widmete Stone daraufhin eine zweite Doku „Sly Lives“.

Am Montag ist Sly Stone in Los Angeles im Alter von 82 Jahren an den Folgen einer Lungenkrankheit gestorben. Zum Abschied zitierte Questlove einmal mehr dessen Aufruf aus „Everyday People“: „Wir müssen zusammen leben!“ Den, so der Schlagzeuger, verstünde er heute als Befehl.