Soll Containern legalisiert werden?„Der Vorschlag ist reine Symbolpolitik“

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Bei einer Demonstration trägt ein Teilnehmer vor dem Brandenburger Tor ein Plakat mit der Aufschrift „Essen retten ist kein Verbrechen - Containern legalisieren!“.

Bei einer Demonstration trägt ein Teilnehmer vor dem Brandenburger Tor ein Plakat mit der Aufschrift „Essen retten ist kein Verbrechen - Containern legalisieren!“.

Wird das straffreie Wühlen in Mülltonnen das dahinterstehende Problem lösen: die gigantische Lebensmittelverschwendung? Unser Streit der Woche.

PRO

Elf Millionen Tonnen. Vielleicht haben Sie diese Zahl schon einmal gehört. So viele Lebensmittel wurden in Deutschland im Jahr 2020 weggeworfen, wie das Ernährungs- und Landwirtschaftsministerium berichtet. Rund 60 Prozent davon entstehen in privaten Haushalten. Sieben Prozent allerdings sind auf den Handel zurückzuführen – immerhin noch 800.000 Tonnen Lebensmittel.

Das in Zeiten, in denen Menschen aufgrund der Inflation und Energiekrise auch am Essen sparen müssen. Und in Zeiten, in denen Lebensmittel-Ressourcen aufgrund der Klimakrise zu einem immer höheren Gut werden. Und Containern soll weiter verboten bleiben? Das ist absurd.

Anna  Westkämper

Anna Westkämper

Redakteurin in der Kölner Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Master of Arts an der Universität zu Köln, nun Lehrbeauftragte für Lokaljournalismus ebenda. 2022 wurde sie gemeinsam mit ihrem Ko...

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Das scheint auch beim Landwirtschaftsminister Cem Özdemir angekommen zu sein. Jüngst sprach er sich dafür aus, das Containern zu legalisieren. Denn wer aktuell in den Mülltonnen von Supermärkten oder Discountern nach noch genießbarem Brot, Joghurt oder Gemüse sucht und davon etwas mitnimmt, begeht Diebstahl.

Diebstahl an wem? Die Supermärkte schmeißen etwas weg, das sie sowieso nicht mehr hätten verkaufen können. Aktuell sträuben sie sich vor allem aus Haftungsgründen gegen das Containern. Das allerdings darf kein ernsthaftes Hindernis auf dem Weg zur Legalisierung sein. In einem neuen Gesetz könnten klare Vorgaben geschaffen werden, unter welchen Voraussetzungen das Lebensmittel-Retten erlaubt wird.

Feste Zeiten zum Containern könnten angeboten werden

Justizminister Marco Buschmann ist beispielsweise wichtig, dass auf dem Weg zum Containern kein Hausfriedensbruch begangen wird. Also nicht über einen Zaun geklettert werden muss, um zum Container zu gelangen. Sollte die Rechtslage für die Supermärkte aber geklärt sein, gäbe es ja gar keinen Grund mehr, die weggeworfenen Lebensmittel unzugänglich zu lassen. Supermärkte könnten gar feste Zeiten zum Containern anbieten, oder die aussortierten Lebensmittel gleich in Kästen sortiert nach draußen zum Mitnehmen hinstellen.

Wer nun argumentiert, die Lebensmittel könnten einfach an die Tafeln abgegeben werden, der macht es sich etwas zu leicht. Denn beim Containern retten Menschen ja gezielt Lebensmittel, die womöglich das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben oder kleine Schönheitsfehler haben. Menschen die containern haben damit kein Problem, und in den meisten Fällen sind die Lebensmittel noch ohne Probleme genießbar.

Sie an die Tafeln zu schicken wäre aber ein Zeichen von Respektlosigkeit: Bedürftige sollten nicht, ohne die Wahl zu haben, mit B-Ware abgespeist werden. Diese zu konsumieren, muss eine freie Entscheidung sein. Natürlich ist das Containern nicht die Patentlösung gegen Lebensmittelverschwendung und auch nicht gegen Armut. Doch solange Supermärkten in Deutschland noch nicht - wie etwa in Frankreich - verboten wird, überhaupt Lebensmittel wegzuwerfen, ist es eine gute Lösung. Um die wirtschaftliche Situation der Märkte dürfte man sich beim Containern im Übrigen keine Sorgen machen. So erzielte beispielsweise die in Köln ansässige Rewe-Gruppe 2021 einen Rekord-Umsatz von 76,5 Milliarden Euro. Diese Zahl dürfte sich auch mit legalem Containern kaum verringern - aber die 800.000 Tonnen weggeschmissene Lebensmittel, die könnten wir reduzieren.

Anna Westkämper (27) ist Redakteurin in der Kölner Lokalredaktion. Ihr wurde von klein auf beigebracht, dass man Lebensmittel nicht wegschmeißt – weshalb sie immer noch regelmäßig diverse Reste einfach mit Käse überbackt.


Contra

Elf Jahre ist es her, dass ich eine junge Kölnerin für eine Reportage über das Containern in den späten Abendstunden begleitet habe und zwischen Staunen und Entsetzen ihre reiche Ausbeute genießbarer Lebensmittel in Augenschein nahm.

Seit dieser Zeit hat sich zum Glück schon einiges getan: Immer mehr Supermärkte und Bäckereien kooperieren mit den Tafeln, um Verschwendung zu vermeiden. Trotzdem bleibt es skandalös, wie viele Lebensmittel in Deutschland immer noch weggeschmissen werden. Und das im Jahr 2022, wo wir für sehr viel komplexere Probleme gute Lösungen entwickelt haben.

Sarah Brasack

Sarah Brasack

Stellvertretende Chefredakteurin des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Sie wurde 1979 in Bonn geboren. Nach dem Studium der Musikwissenschaften, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Bonn und St. Andrews...

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Noch skandalöser ist die Tatsache, dass in einem reichen Land so viele Menschen, Kinder und insbesondere auch ältere Frauen, unterhalb der Armutsgrenze leben müssen und auf Lebensmittelspenden von Tafeln angewiesen sind. Der auf den Tisch gelegte Vorschlag von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und Marco Bundesjustizminister Buschmann, Containern zu legalisieren, ist allerdings nicht Teil einer Lösung, die so dringend erforderlich wäre. Der Vorschlag ist Symbolpolitik.

Schauen wir uns die Bedingungen doch mal an, unter denen das Containern straffrei bleiben soll: Weder darf eine Mauer oder ein Zaun überklettert werden, noch dürfen Schlösser von Mülltonnen geknackt werden. Wie viele Supermärkte kennen Sie, wo die Tonnen frei und unverschlossen vor dem Supermarkt stehen, zum Wühlen freigegeben? Ich kenne keinen. Würde sich das nach der Legalisierung des Diebstahls ändern? Wohl kaum.

Der Verzehr mancher Produkte könnte auch gefährlich sein

Zu recht weisen die Supermärkte darauf hin, dass sich in ihren Containern auch aus guten Gründen weggeschmissene Rückruf-Ware befindet – neben anderen Produkten, bei denen es gefährlich sein kann, wenn das Haltbarkeits-Datum überschritten ist und diese einige Zeit lang lang ungekühlt in Containern lagen.

Ein weiteres Problem: das Mindesthaltsbarkeitsdatum. Nach dem Erreichen besagten Datums haftet der Händler für die Ware, auch wenn er sie verschenkt. Dieses Haftungsrisiko will kaum ein Supermarkt übernehmen. Verständlich. Das bedeutet nicht, dass man die Supermärkte aus ihrer Verantwortung entlassen sollte: Wenn Özdemir und Buschmann wirklich große Hebel in Bewegung setzen wollen würden, könnten sie sich andere EU-Länder zum Vorbild nehmen: In Frankreich sind Supermärkte schon seit Jahren dazu verpflichtet, genießbare Lebensmittel selbst weiterzuverwenden oder zu spenden. Außerdem können sie 60 Prozent des Einkaufspreises der gespendeten Lebensmittel von der Steuer absetzen.

Beide Maßnahmen zusammen würden potenziell deutlich mehr Lebensmittel retten als die Straffreiheit für Menschen, die in Mülltonnen wühlen müssen. Und wo wir schon bei großen Hebeln sind: Eine große Aufklärungs-Kampagne in Bezug auf das Mindesthaltbarkeits-Datum wäre wichtig. Wie viele Menschen denken immer noch, dass sie die Lebensmittel nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums nicht mehr verwenden dürfen? Die meisten Lebensmittel werden mit 59 Prozent immer noch in den privaten Haushalten weggeschmissen.

Sarah Brasack (43), stellvertretende Chefredakteurin, findet Menschen toll, die für eine gerechtere, bessere Gesellschaft kämpfen. Lebensmittelretter gehören dazu. Sie sollten viel mehr unterstützt werden – mit weniger Symbolpolitik.

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