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BevölkerungsentwicklungDeutschland wird um 20 Millionen Menschen schrumpfen

Lesezeit 5 Minuten
Menschenmassen

In vielen Ländern wird die Geburtenrate im Laufe der kommenden Jahrzehnte deutlich sinken.

  1. Forscher haben eine Prognose zur Entwicklung der Erdbevölkerung bis zum Ende des Jahrhunderts vorgelegt.
  2. Sie sagen: In vielen Ländern, besonders in Europa, wird die Population um die Hälfte schrumpfen.
  3. Der Hauptgrund für diesen Rückgang ist jedoch nicht negativ.

Seattle – Die Erdbevölkerung wird einer neuen Prognose zufolge um das Jahr 2064 mit 9,7 Milliarden Menschen ihren Höchststand erreichen – und danach deutlich schrumpfen. Am Ende des Jahrhunderts leben demnach „nur“ rund 8,8 Milliarden Menschen auf dem Planeten. Das sind etwa zwei Milliarden weniger als noch voriges Jahr von den Vereinten Nationen vorhergesagt. Forscher des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington in Seattle kündigen im Fachblatt „The Lancet“ für den Verlauf des Jahrhunderts beispiellose Umwälzungen an. Auch Deutschland muss sich auf Veränderungen einstellen.

Deutscher Höchststand 2035

Demnach werden zum Ende des Jahrhunderts die Geburtenraten in 183 von 195 Ländern so niedrig sein, dass ihre Bevölkerungszahl ohne Einwanderung nicht aufrechterhalten werden kann. In 23 Ländern – insbesondere in Europa und Asien – werden die Populationen im Vergleich zu heute um mehr als die Hälfte schrumpfen. Zu diesen Ländern zählen der Prognose zufolge Polen, die Ukraine, Italien, Spanien, Portugal, Japan und Thailand. Selbst die Bevölkerung Chinas wird ähnlich stark zurückgehen – von 1,4 Milliarden 2017 auf 732 Millionen 2100. Zum Vergleich: In Deutschland erreicht die Bevölkerung im Jahr 2035 mit 85 Millionen ihren Höchststand und sinkt bis zum Jahr 2100 auf etwa 66,4 Millionen ab. Die Geburtenrate wird bis dahin im Vergleich zu heute (1,39) nur leicht auf 1,35 sinken.

Als Gründe für die globale Entwicklung nennen die Forscher um IHME-Direktor Christopher Murray leichteren Zugang zu Verhütungsmitteln und bessere Bildung für Mädchen und Frauen. Als Grundlage der Prognose verwendete das Team die Daten des Berichts „Global Burden of Disease“ von 2017, der grundlegende Trends unter anderem zu Sterblichkeit und Gesundheit aufzeigt. Daraus leiten die Forscher nun Prognosen zu Sterblichkeit, Geburtenraten und Migration für das laufende Jahrhundert ab.

Die globale Geburtenrate von etwa 2,37 Kindern pro Frau im Jahr 2017 wird demnach bis 2100 auf einen Wert von 1,66 sinken - und damit deutlich unter die für eine stabile Bevölkerung erforderliche Marke von 2,1. Selbst in Afrika südlich der Sahara mit einem derzeit hohen Wert von 4,6 wird der Wert dann mit 1,7 deutlich unterschritten.

Diese Trends verändern die demografische Struktur massiv: Auf der Erde des Jahres 2100 werden 2,37 Milliarden Menschen im Alter über 65 Jahren leben – im Vergleich zu nur 1,7 Milliarden unter 20. „Ein dauerhafter globaler Bevölkerungsanstieg ist nicht mehr länger die wahrscheinlichste Entwicklung der Weltpopulation“, erklärt Murray in einer „Lancet“-Mitteilung. „Diese Studie bietet Regierungen eine Gelegenheit, ihre jeweilige Politik in Bezug auf Einwanderung, Arbeitskräfte und wirtschaftliche Entwicklung zu überdenken, um die Herausforderungen durch den demografischen Wandel anzugehen.“

Deutschland könnte sich behaupten

Die demografischen Umwälzungen werden der Prognose zufolge an der globalen Wirtschaftsordnung rütteln: China wird die USA im Jahr 2035 als Land mit dem größten Bruttoinlandsprodukt (GDP) ablösen, dann allerdings unter seinem Bevölkerungsrückgang leiden. Die USA, die Ende des Jahrhunderts mit 336 Millionen mehr Einwohner haben als zurzeit (325 Millionen), könnten der Prognose zufolge jedoch 2098 wieder das weltweit größte GDP erreichen. Auch die indische Bevölkerung wird bis 2100 schrumpfen – von derzeit knapp 1,4 Milliarden über 1,6 Milliarden im Jahr 2048 auf knapp 1,1 Milliarden am Ende des Jahrhunderts. Deutschland, Frankreich und Großbritannien könnten den Kalkulationen zufolge ihre führenden Rollen unter den Top 10 der Wirtschaftsnationen beibehalten, während Italien und Spanien deutlich abfallen.

„Für Länder mit hohem Einkommen und niedrigen Geburtenraten sind die besten Lösungen, um die derzeitige Population, Wirtschaftswachstum und geopolitische Sicherheit zu erhalten, offene Einwanderungsregelungen und eine Sozialpolitik, die Familien darin unterstützt, ihre gewünschte Kinderzahl zu haben“, erläutert Murray. Zudem sollten Frauenrechte für die Regierungen oberste Priorität haben.

Nur zwei Erdregionen haben den Forschern zufolge im Jahr 2100 eine größere Bevölkerung als derzeit. In Afrika südlich der Sahara leben dann mit gut drei Milliarden Menschen fast dreimal mehr Menschen als heute, in der Region Nordafrika und Vorderasien gibt es demnach statt heute 600 Millionen dann 978 Millionen Menschen. Die Forscher räumen ein, dass ihre Prognosen auch von der Qualität der ausgewerteten Daten abhängen. Zudem seien Trends der Vergangenheit nicht unbedingt entscheidend für die Zukunft. Die Coronavirus-Pandemie wird die Bevölkerungsentwicklung nicht direkt verändern, könnte sich aber auf nationale Gesundheitssysteme weltweit auswirken.

„Falls die Vorhersagen von Murray halbwegs zutreffen, wird Zuwanderung für alle Nationen nicht nur eine Option werden, sondern eine Notwendigkeit“, schreibt Ibrahim Abubakar vom University College London in einem „Lancet“-Kommentar. „Die positiven Auswirkungen von Migration auf Gesundheit und Wohlstand sind bekannt.“ Die Verteilung der Populationen im Arbeitsalter werde darüber entscheiden, „ob die Menschheit gedeiht oder verkümmert“.

Frauen-Bildung entscheidend

Auch Wolfgang Lutz, Direktor des Wiener Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, hält die Vorhersagen für belastbar. „Bevölkerungsprognosen sind tendenziell längerfristig valide als etwa Wirtschaftsprognosen“, sagt er. „Geburtenraten und der Anstieg der Lebenserwartung sind langsame Prozesse, die keine plötzlichen Sprünge machen.“ Migration aber unterliege auch kurzfristigen politischen Einflüssen.

Berechnungen des Wittgenstein Centre ergaben, dass deutlich vor Ende des Jahrhunderts die Zahl der Erdbevölkerung ihren Höhepunkt erreicht hat. Der Schlüssel zur Bevölkerungsentwicklung sei – unabhängig von der Weltregion – das Bildungsniveau von Frauen. Nach Modellrechnungen geht Lutz davon aus, dass die Erdbevölkerung bis 2200 auf etwa drei Milliarden Menschen zurückgehen würde – sofern alle Länder bis Ende dieses Jahrhunderts das jetzige Niveau der europäischen Geburtenraten erreichten. (dpa)