Ermittler glaubten an UnfallQualvoller Tod eines Jungen – Urteil gegen Sekten-Chefin

Lesezeit 3 Minuten
Hanau Angeklagte

Die Angeklagte mit ihrem Anwalt Peter Hovestadt im Gerichtssaal des Hanauer Landgerichts.

Hanau – Misshandelt, eingeschnürt in einen Leinensack, abgelegt im Badezimmer, stirbt ein Vierjähriger - erstickt am eigenen Erbrochenen. So hat sich zumindest nach Auffassung der Hanauer Staatsanwaltschaft vor mehr als 30 Jahren an einem heißen Sommertag im August 1988 ein grausiges, lange unentdecktes Verbrechen abgespielt. Sie sieht einen Mord durch Unterlassen an dem kleinen Kind.

Verantwortlich sein soll eine heute 73 Jahre alte mutmaßliche Sekten-Chefin, die nach dem Willen der Anklage mit lebenslanger Haft bestraft werden soll. Die Verteidigung weist den Mordvorwurf zurück und sieht eine „Hetzkampagne angeblicher Sekten-Aussteiger“. Sie plädierte nach Angaben des Hanauer Landgerichts auf Freispruch. Es will voraussichtlich an diesem Donnerstag das Urteil gegen die Frau sprechen.

Chefin übte psychische und physische Gewalt aus 

Zeugen berichteten in dem seit Oktober laufenden Verfahren vom strengen Regiment der 73-Jährigen sowie von den Leiden des Jungen und auch anderer Kinder. Wegbegleiter und Aussteiger berichteten von seelischen Grausamkeiten, Gehirnwäsche, psychischer und physischer Gewalt in der Hanauer Gruppe. Ihre Gefolgschaft soll die Angeklagte mit ihrer Spiritualität beeindruckt haben. Sie gab vor, mit Gott in Kontakt zu stehen und im Traum Botschaften von ihm zu empfangen. Einem Gutachter zufolge hat sie zwar eine Persönlichkeitsstörung, ist aber voll schuldfähig.

Ein leiblicher Sohn der 73-Jährigen schilderte in dem Verfahren seine Mutter als „eiskalt“, „erbarmungslos“ und „totale Instanz“. Als damals 14-Jähriger will er das Leiden des Jungen an jenem Augusttag gesehen haben. Das Kind soll zur Züchtigung in einen Leinensack geschnürt und im Badezimmer abgelegt worden sein. Der Junge habe verzweifelt geweint. „Das Schreien habe sie überhaupt nicht interessiert“, gab der Sohn in seiner Aussage über seine Mutter an, die am Tattag auf das Kind aufpassen sollte. Irgendwann sei sie ins Badezimmer gegangen und dann sei plötzlich absolute Ruhe gewesen. Wenig später habe er gesehen, wie Erbrochenes aus dem Mund des bleichen, leblosen Jungen geholt worden sei.

Zeugen berichteten, dass auch andere Kinder in der Gemeinschaft leiden mussten. Sie sollen eingesperrt, geschlagen und misshandelt worden sein. Aus Sparsamkeit hätten sie verdorbene Lebensmittel essen müssen. Sie hätten Brot auf die Heizung gelegt, um warmes Essen zu haben, während die Angeklagte und ihr Mann Luxusartikel gekauft hätten.

73-Jährige sieht Rufmord-Kampagne

Die 73-Jährige sieht in den Aussagen eine Rufmord-Kampagne. Und sie bekam in dem Verfahren auch Rückendeckung. So gab die Mutter des getöteten Jungen an, die ehemalige Krankenschwester sei liebevoll mit den Kindern umgegangen. Sie hütete die Kinder, während Eltern und Mitglieder der Gruppe arbeiteten. Die Zeugin verlor kein böses Wort und sagte über die Angeklagte: „Sie ist wie eine Schwester und gute Freundin für mich.“

Das mögliche Verbrechen blieb lange unentdeckt. 1988 waren Ermittler zunächst von einem Unfall ausgegangen. Als Notarzt und Polizei eintrafen war der Sack der Staatsanwaltschaft zufolge verschwunden und der Junge lag im Kinderzimmer. 2015 wurde der Fall nach Hinweisen von Sekten-Aussteigern neu aufgerollt.

Als Motiv sieht die Staatsanwaltschaft, dass die 73-Jährige durch den Tod des Jungen ihre Machtposition stärken wollte. Sie habe das Kind als „vom Bösen besessen“ bezeichnet. Nach dem Tod habe sie die Eingebung vorgetäuscht, dass Gott das Kind geholt habe. Der Junge sei die Wiedergeburt Hitlers gewesen.

Was immer an dem Tag in August 1988 in Hanau geschah, juristisch kann die 73-Jährige nach Angaben einer Sprecherin des Landgerichts nur wegen Mordes zur Verantwortung gezogen werden. „Alles andere wäre verjährt.“ (dpa)

KStA abonnieren