Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Interview mit Prof. Dr. Marx„Haben die Corona-Pandemie im Herbst überwunden“

Lesezeit 7 Minuten
Gernot Marx afp

Prof. Dr. Gernot Marx (Mitte) im Gespräch mit seinen Kollegen in Aachen.

  1. Intensivmediziner-Präsident Gernot Marx spricht im Interview über die dritte Welle, frühe Lockerungen und die neue Impfstrategie

Herr Marx, wie ist die Lage aktuell auf den deutschen Intensivstationen?Gernot Marx: Wir befinden uns heute in einer Situation, die besser ist als zu Beginn des Jahres. Wir haben aktuell 2761 Patienten mit Covid-19 in intensivmedizinscher Behandlung. Anfang des Jahres waren es mehr als doppelt so viele. Dennoch gibt es aktuell nicht viele freie Intensivbetten. Die, die frei wurden, werden jetzt für dringliche Patienten verwendet, die warten mussten. Herz-Patienten, Tumor-Patienten und andere Menschen, die zwar nicht von heute auf morgen operiert werden müssen – aber doch möglichst schnell. Denn sonst könnten auch sie zu akuten Notfällen werden.

Nun wurde die Schwelle des Inzidenzwert von 35 gekippt, Lockerungen in Aussicht gestellt. Wie bewerten Sie die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz?

Der Lockdown ist grundsätzlich zwar verlängert worden. Gleichwohl gibt es einen Strategiewechsel: Es wird vor April gelockert werden. Unser Wunsch als Divi war es, das nicht zu tun. Sieht man sich die steigende Reproduktionszahl und den großen Anteil der hochansteckenden Mutationen an den Neuinfektionen an, bereiten uns die Lockerungen große Sorge. Der R-Wert darf auf keinen Fall über 1,2 steigen, sonst befinden wir uns wieder in einem exponentiellen Wachstum – was wieder deutlich mehr Intensivpatienten bedeuten würde. Das muss verhindert werden. Wichtig ist jetzt, dass die definierten Notbremsen früh genug greifen.

Die Divi hat schon vor der Ministerpräsidentenkonferenz ein Prognosemodell veröffentlicht, in dem sehr genau der zeitnahe Verlauf der Pandemie simuliert wird. Daraus ist zu lesen: Lockerungen im März bedeuten in jedem Fall einen starken Anstieg der Infektionszahlen. Steht uns dieser also bevor?

Ja, davon gehen wir aus. Die dritte Welle wird kommen.

Zur Person

Prof. Dr. Gernot Marx (55) leitet seit 2008 die Klinik für operative Intensivmedizin und Intermediate Care des Universitätsklinikums Aachen und ist Inhaber des bundesweit einzigen Lehrstuhls mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin an der RWTH Aachen. Sein Team behandelte im Frühling 2020 viele Patienten aus Heinsberg.

Seit Januar 2021 ist Marx auch Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).  

Und damit auch eine höhere Intensivbelegung?

Ja, das kommt dann zehn bis 14 Tage später. Doch ich habe auch die Hoffnung, dass die Politik schnell auf gefährliche Entwicklungen des R-Werts und des Inzidenzwertes reagieren wird - und wir so zumindest das Allerschlimmste verhindern können. Oder das wir beim Impfen sehr, sehr viel schneller werden. Denn wer geimpft ist, wird fast mit Sicherheit keinen schweren Verlauf von COVID-19 erleben müssen.

Nun wurde Ihre Empfehlung, bis Anfang April auf keinen Fall zu lockern, nicht übernommen. Wird Ihre Stimme als Intensivmediziner von der Politik ausreichend berücksichtigt?

Ich habe das Gefühl, dass unser Standpunkt gehört und ernstgenommen wird. Wir sind Intensivmediziner und sprechen aus unserer medizinischen Sicht und wir akzeptieren, dass in dieser Lage nicht ausschließlich unsere Empfehlung beachtet werden kann. Die Politik muss jede Perspektive einbeziehen und abwägen. Das ist sehr schwierig, ich habe großen Respekt vor dieser Verantwortung. Ich bin mir sehr sicher, dass sich die Entscheidungen der vergangenen Tage niemand leicht gemacht hat. Und durch die Beschlüsse klingt ja durch, dass man durchaus bereit ist, zu reagieren und bei Bedarf erneute Verschärfungen zu beschließen.

Dennoch: Lehnen Sie die neuen Beschlüsse aus dieser Perspektive grundsätzlich ab?

Nein, die neuen Vorgaben zum Impfen und Testen begrüße ich sehr! Schnelle Impfungen sind die Grundlage für das Ende der Pandemie. Wenn wir tatsächlich bald auch durch Hausärzte impfen lassen, wäre das ein absoluter Durchbruch. Und eine umfangreiche Teststrategie, wie sie nun vorgesehen ist, bedeutet, Infektionsherde schneller zu erkennen. So können wir Übertragungen vermeiden – wenn uns die Umsetzung auch gelingt. Das ist leider nicht ganz unkompliziert. Richtig war auch, nicht zu sehr auf Selbsttests zu setzen. In professioneller Hand sind die Tests deutlich effektiver.

Hätten Sie sich gewünscht, dass so eine Teststrategie schon in einer früheren Phase der Pandemie umgesetzt worden wäre?

Es ist immer richtig, nach vorne und nicht nach hinten zu schauen.

Ihre zentrale Forderung, länger im Lockdown durchzuhalten, deckt sich mit der NoCovid-Initiative. Wie stehen Sie zu dieser?

Die Überlegungen der NoCovid-Gruppe sind interessant. Doch wir haben unsere eigene Strategieempfehlung abgegeben, weil wir als Divi eine sehr gute Datengrundlage haben. Alle Krankenhäuser, die Intensivpatienten behandeln, melden uns jeden Tag ihre Zahlen. Wir können anhand derer ständig überprüfen, wie gut unsere Modelle sind – und diesen Abgleich für künftige Modelle berücksichtigen. Unsere Prognosen sind qualitätsgesichert. Unserer Meinung nach sollte der R-Wert eine noch größere Bedeutung haben. An ihm können wir ablesen, ob uns ein exponentielles Wachstum bevorsteht oder nicht.

Warum haben Sie sich als Divi dann nicht der NoCovid-Initiative angeschlossen?

Man muss für jedes Modell – und NoCovid ist auch ein Modell – genau prüfen, wie gut es für unser Land und unsere geografischen Begebenheiten passt. Niemand hat für Deutschland eine so gute Datengrundlage wie wir. Deshalb ist es uns möglich, eigene Vorschläge zu machen. Das bedeutet nicht, dass wir andere Vorschläge ablehnen. Wir möchten der Politik möglichst gute Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stellen. Das ist unser Anliegen.

Sie warnten bereits vor Wochen vor einem steigenden R-Wert bei Schulöffnungen, verwiesen auf Länder wie Großbritannien oder Portugal, in denen diese umgehend zu einem exponentiellen Wachstum der Infektionszahlen geführt hätten. Nun sind die Schulen offen. Was bedeutet das?

Die Schulöffnungen sind ein kompliziertes Thema. Welches politische Verhalten, schließen oder öffnen, hier weniger Schaden anrichtet, ist sehr schwer zu sagen. Die Kombination von Testungen und Öffnungen halte ich für begrüßenswert. Es ist denkbar, dass ein höherer R-Wert durch mehr Testungen vermieden werden kann. Ob Schulen aber überhaupt öffnen sollten, ist eine Frage, die ich nicht final beantworten kann. Ich bin Intensivmediziner.

Ihr Modell sagt auch, dass die dritte Welle zur bislang höchsten Belastung der Intensivkapazitäten seit Beginn der Pandemie führen könnte: eine Intensivbettenbelastung einer einzelnen Krankheit mit mehr als 6000 zeitgleichen Patienten. Das wäre eine historische Höchstmarke. Müssen wir uns darauf jetzt vorbereiten?

Meine Hoffnung ist, dass die Prognose nicht eintritt. Ich hoffe, dass die Politik vorher Entscheidungen treffen wird, die das verhindern.

Was droht, wenn es doch zum befürchteten Szenario kommt?

Auch in diesen Tagen erleben wir noch keine Entspannung auf den Intensivstationen. Die Belastung hat sich reduziert, ja. Von sehr hoch auf hoch. Insgesamt sind unsere Teams seit einem Jahr unter Dauerstress. Das gilt auch für den vergangenen Sommer, in dem viele Behandlungen von Nicht-Covid-Patienten nachgeholt wurden. Intensivmediziner und Pfleger werden die gestellten Aufgaben meistern, davon gehe ich auch für die kommenden Monate aus. Aber die Bedingungen sind schlecht – und die bevorstehende dritte Welle würde sie noch einmal entscheidend verschlechtern.

Wie viel Schaden können die Impfungen in den kommenden Monaten abwenden?

Unglaublich viel. Wie ich sagte: Wir stehen kurz vor einem Durchbruch in der Pandemiebekämpfung. Je mehr Menschen geimpft werden, desto schneller werden wir sie bewältigen. Auch die Lockerungen riskieren diesen Erfolg, auf den wir zusteuern, nicht im Kern. Ich gehe davon aus, dass wir die Pandemie im Herbst überwunden haben werden.

Das könnte Sie auch interessieren:

Der öffentliche Fokus liegt derzeit klar auf den Kollateralschäden der Pandemie, nicht auf dem Virus und seinen tödlichen Folgen. Werden die Intensivstationen zu wenig beachtet?

Wir haben unser Bestes getan, das zu verhindern. Ob das reicht, weiß ich nicht. Wir arbeiten ständig daran, die Lage darzustellen. Wir wollen keinen Alarmismus betreiben. Aber uns ist auch wichtig, zu betonen, dass Covid-19 ist eine besonders gefährliche Erkrankung ist, die oft zum Tod und noch viel öfter zu starken Einschränkungen im Leben vieler Infizierten führen, von Atemschwierigkeiten zu anhaltender Muskelschwäche – übrigens auch bei Menschen, die keinen schweren Verlauf hatten. Als Arzt ist es mir schlicht wichtig, dass möglichst wenige Menschen diese Krankheit erleiden. Daran arbeite ich.

Das Gespräch führten Paul Gross und Jonah Lemm