Carina Hollert war fast zehn Jahre Sexarbeiterin, zuletzt in einem Lübecker Club. Heute träumt sie von einer Karriere als Sängerin.
Carinas Weg aus der Prostitution„Sie denken, wenn sie zahlen, muss ich alles machen“

Carina Hollert (33) war zehn Jahre in der Erotik-Branche tätig. Jetzt möchte sie das hinter sich lassen und als Sängerin erfolgreich werden.
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Wenn Carina kopfüber an der Poledance-Stange hing, war das wie Achterbahn fahren: Der Magen hebt ab, ein Kribbeln rauscht durch den Körper, dann das Glück. Sie tanzte nur für sich, die Blicke waren ihr egal. Sie war damals 18. Während der Woche lernte sie Grafikdesign, am Wochenende tanzte sie im Club. Erst Go-Go, dann Table-Dance, dann Striptease. „Ich habe mich als Künstlerin gefühlt. Mit einem Fuß stand ich auf der großen Bühne im Rampenlicht“, erinnert sie sich.
Irgendwann wollte ein Mann mehr. Er gab ihr viel Sekt aus. Irgendwann sagte sie nicht mehr Nein. Und ging mit ihm aufs Zimmer. „Auf einmal merkte ich: Irgendwie bin ich mit einem Fuß in der Prostitution und ganz weit weg vom Rampenlicht.“ Carina Hollert (33) hat fast zehn Jahre als Prostituierte gearbeitet, zuletzt in einem Club in Lübeck. Diesen Frühling ist sie ausgestiegen.
Auftritte bei „Deutschland sucht den Superstar“
Einige Monate später, an einem Tag im August, sitzt Carina auf einem Sofa in den Räumen der Fachberatungsstelle für Prostitution im Hamburger Stadtteil St. Georg. Geboren wurde sie in Hamburg, ihre Ausbildung machte sie in Schwerin. In ihre Unterlippe sind zwei Ringe gestochen. Ihre Haare trägt sie als Cornrows, eng am Kopf geflochtene Zöpfe, mit lilafarbenen Strähnen. Auf ihren Arm sind Songtexte von Tokio Hotel, ihrer Lieblingsband, tätowiert.
Seit Jahren macht sie sich für die Rechte von Sexarbeitenden stark. Erst im Berufsverband, dann auf ihrer eigenen Plattform, die sie sich aufgebaut hat. 2020 bewarb sie sich bei „Deutschland sucht den Superstar“. Im Casting fiel sie auf, als sie auf dem Schoß von Juror Pietro Lombardi tanzte. Beim zweiten Anlauf 2024 schaffte sie es in den Recall.
„Roter Teppich statt Rotlicht“
In diesem Jahr veröffentlichte sie als City Cat ihren eigenen Song: „Roter Teppich statt Rotlicht, eines Tages wird es wahr. Ja, dann werdet ihr mich strahlen sehen, dann bin ich ein Star“, heißt es im Refrain. „Roter Teppich“ ist ein Mix aus feministisch-pöbelndem Rap à la Shirin David und Ballermann-Hit, nur etwas vulgärer: „Es ist überall das gleiche, ob im Club oder Bordell, Typen kommen und gehen und am besten ziemlich schnell.“
Der Weg in die Prostitution war schleichend. Als sie fertig mit der Ausbildung zur Grafikdesignerin war, wollte sie als Tänzerin arbeiten. Nur für ein paar Jahre. „Ich fand die Selbstständigkeit schön“, sagt Carina. „Ich war frei in meiner Arbeitszeiteinteilung. Und ich konnte reisen, weil ich damit ganz gut verdient habe.“
Aus gesundheitlichen Gründen verschuldete sich Carina
Aber dann häuften sich Schulden an. Aus gesundheitlichen Gründen, sagt Carina. Ihr sei alles über den Kopf gewachsen. Um sie zu begleichen, wollte sie zurück in ihren alten Club. Der war sauber, nur Table Dance. Aber dann landete sie in einem Stripclub in Berlin.
Es gibt Clubs, die halten sich nicht an das Gesetz. Laut Prostituiertenschutzgesetz müssen alle Menschen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, bei einer Behörde gemeldet sein. Auch, wer ein Prostitutionsgewerbe betreibt, muss das anmelden.
Nicht alle Clubs halten sich an die Regeln
Im Berliner Club war das anders. Die Frauen seien nur als Tänzerinnen gemeldet gewesen. „Umso länger man da drin ist, umso mehr wird einem geraten, mehr anzubieten“, sagt Carina. Mehr passiert in den Separees.
Nach dem ersten Mann, für den sie nicht nur getanzt hat, fühlte Carina sich schlecht. Nach der Arbeit weinte sie häufig. Sie entwickelte einen Waschzwang.
Es lockte das schnelle Geld
„Ich wollte, als ich die Schulden abbezahlt hatte, wieder damit aufhören. Mir einen anderen, vernünftigen Club suchen.“ Ein Gedanke war lauter: Wenn sie so schnell Geld verdienen konnte, könnte sie sich auch anderes Schönes finanzieren – wenn sie ab und zu mehr anbiete.
2019 meldete Carina sich gemäß dem Prostituiertenschutzgesetz an. Sie fand Arbeit in Köln, Berlin und Hamburg. In Clubs, Bordellen und Laufhäusern. Dort gibt es Zimmer, die Prostituierte mieten können. In Kiel zahlte Carina 120 Euro pro Tag. „Wir Frauen haben uns geeinigt, unter 50 Euro nichts zu machen“, sagt Carina. Mindestens 150 Euro gingen für Miete, Laken, Handtücher und Kondome drauf. Erst ab dem vierten Kunden verdiente sie Geld.
Prostitution ist eine einsame Branche
Doch Prostitution macht einsam. „Ich hatte nur mich und meinen Koffer“, sagt Carina. In Clubs fiel es ihr schwer, Freundschaften zu schließen. Zu groß sei der Konkurrenzkampf. Verdient jemand mehr, kommen böse Blicke. In guten Zeiten konnte sie es sich leisten, während ihrer Periode nicht zu arbeiten.
„Eine Zeit lang hat es mir Spaß gemacht, weil ich viel Geld verdient habe und frei war.“ Wo immer Tokio Hotel auftrat, reiste sie hin. Seit sie ein Teenager ist, gibt ihr die Musik Halt. Etwa „Spring nicht“, in dem Bill singt: „Ich schrei‘ in die Nacht für dich, lass mich nicht im Stich, spring nicht“. Sie orientierte sich an der Band, an dem Selbstbewusstsein von Bill, dass man sich trauen kann, anders und stolz darauf zu sein.
50 Euro in zehn Minuten
Die Lieder sind ihr Wohlfühlort, die Konzerte ein Fluchtpunkt. Für ein VIP-Ticket zahlte sie bis zu 1000 Euro. Auf ihrem Rücken sind unter dem Band-Logo die Tourdaten der letzten Jahre tätowiert.
Den Preis für die Freiheit und das gute Geld zahlt Carina noch heute. Erst jetzt merkt sie, wie sehr sie damit kämpft. Man müsse es sich schönreden, sagt sie. Der Kunde war scheiße zu ihr? Aber gut, wer verdient schon 50 Euro in zehn Minuten. Beim Sex empfand sie nichts. „Mit den Gedanken bin ich ganz woanders“, sagt Carina. „Es erregt mich nicht, aber es ekelt mich auch nicht an.“
„Sie denken, wenn sie zahlen, muss ich alles machen“
Anfang 2024 wurde sie wohnungslos und von Clubbetreibern abhängig. Sie nahm Kunden an, auf die sie sich sonst nicht eingelassen hätte. „Sie denken, wenn sie zahlen, muss ich alles machen.“ Oft habe sie Männern erklärt, dass das Zwangsprostitution wäre, wenn sie etwas tut, was sie nicht will.
Neben allem Schlimmem – Wohnungslosigkeit, Abhängigkeit, respektlosen Freiern – hat Carina auch dazugewonnen. Sie kann mit Geld umgehen und sich organisieren, sie ist selbstbewusster geworden. „Ich habe dadurch meine sexuellen Grenzen erkannt und gelernt, die auch durchzusetzen.“
Carina gelingt der Ausstieg aus der Prostitution
Als sich ihre private Situation ändert und sie nicht mehr im Bordell leben muss, gelingt ihr der Ausstieg aus der Prostitution. Sie findet zunächst einen Job im Einzelhandel, aktuell sucht sie nach einer neuen Stelle. Sie will nicht mehr abhängig sein – weder von Freiern noch von einem Partner.
Vor kurzem ist sie mit ihrem Freund in Wilhelmshaven zusammengezogen. Sie ist glücklich, sagt sie. Irgendwann, davon träumt sie, wird sie auf der Bühne stehen. In Hamburg brechen Sonnenstrahlen durch die grauen Wolken. Carina zieht ihre Jacke an, bevor sie auf die Straße tritt. Für immer steht auf ihrem Oberarm: „All she wants to do is TANZEN“.
Dieser Artikel erschien erstmals in den „Lübecker Nachrichten“ – Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland.


