150 Millionen Tonnen MüllWie Marcella Hansch die Ozeane vom Plastik befreien will

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Marcella Hansch, Meeresretterin und Idealistin.

  • Wenn die Entwicklung weitergeht wie bisher, wird bald mehr Plastik als Fisch in den Meeren schwimmen.
  • Die Aachener Architektin Marcella Hansch hat eine Plattform entwickelt, die das verhindern soll.
  • Das Problem ist gewaltig, die Vision ist groß, und nicht ganz leicht zu realisieren.

Aachen – So sauber und klar wie der Wildbach durch Aachens Norden fließt, mag man kaum glauben, was neulich am anderen Ende der Welt geschah. An der Küste Indonesiens strandete ein Walkadaver, in dessen Magen vier Trinkflaschen, 115 Becher, 25 Tüten, drei Kilo Seile und ein Paar Flip-Flops gefunden wurden – alles aus Plastik. 

In einem ehemaligen Tuchwerk am Aachener Wildbach aber kämpft Marcella Hansch genau gegen das Problem an, das eines der akutesten unserer Zeit ist: die Vermüllung der Ozeane. „Ich kann die Welt nicht retten, das kann nur Superman. Aber ich kann sie ein Stück besser machen“, sagt Hansch. Sie ist Idealistin. Und sie klingt entschlossen.

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Eine Visualisierung der Plattform

Die Vision sieht so aus: Eine schwimmende Plattform im Wasser, 400 Meter breit, 50 Meter hoch, die nach dem gleichen Prinzip funktioniert wie ein Klärwerk. Die die Strömung durch ein Kammersystem beruhigt, sodass Plastikteilchen, die leichter sind als Wasser, an die Oberfläche steigen, wo sie abgeschöpft werden können. Meerestiere haben zwischen den Lamellen Platz, um herauszuschwimmen. „Von allem, was ich bisher gesehen habe, klingt das am vielversprechendsten“, sagt Heike Vesper, Meeresbiologin des WWF.

Eine Lösung muss dringend her, denn die Dimension der globalen Plastikflut ist gewaltig. 150 Millionen Tonnen treiben in den Ozeanen, schätzt der WWF, jedes Jahr kommen bis zu zwölf Millionen Tonnen dazu. Umgerechnet sind das mehr als 500.000 PET-Flaschen – pro Minute. „Wenn das so weitergeht, wird 2050 vom Gewicht her mehr Plastik als Fisch in den Meeren schwimmen“, sagt Vesper. Viel sinkt für immer auf den Grund. Der Rest schwimmt weiter oben und gerät irgendwann in einen von fünf gigantischen Müllstrudeln – einen im Indischen Ozean, je zwei in Atlantik und Pazifik.

140.000 Meeressäuger sterben jedes Jahr den Plastiktod

Das einst als Wunderstoff gepriesene Plastik, leicht, stabil und billig, wird im Meer zum Gift. Weil es meist günstiger ist, neues zu produzieren, als altes zu recyceln, verschwindet es oft im Wasser. Handelsübliche Plastiktüten brauchen 20 Jahre, bis sie dort verrotten, Getränkedosen 250, PET-Flaschen und Windeln 450, Nylonschnüre von Fischernetzen 600 Jahre.

Haie und Delfine haben eine Lebenserwartung von 25 Jahren. Viele von ihnen verenden vorher am Plastik. Wie Schildkröten, die Einkaufstüten fressen, weil sie aussehen wie Quallen, ihre Lieblingsspeise. „Wir schätzen, dass jede zweite Schildkröte Plastik im Magen hat“, so Vesper. Viele Robben und Wale trennen sich in Getränkehaltern Gliedmaßen ab. 140.000 Meeressäuger sterben jedes Jahr den Plastiktod.

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Durch die Kammern in der Mitte soll das Meer beruhigt werden. Fische können durchschwimmen.

Doch mehr Wucht als Zahlen haben Bilder und Gefühle. Als die Architekturstudentin Marcella Hansch vor sechs Jahren ihre Angst vor Fischen bei einem Tauchkurs vor den Kapverdischen Inseln zu überwinden versucht, berührt sie im Wasser plötzlich etwas am Rücken. Dass es eine Plastiktüte ist, verändert ihr Leben.

„Plötzlich siehst du den Müll überall. Am Strand, in der Stadt, überall.“ Der Plan, daran etwas zu verändern, lässt sie nicht los. Es folgt eine Masterarbeit, in der sie ihre Plattform entwickelt. Dann gründet sie in Kooperation mit der RWTH Aachen den Verein „Pacific Garbage Screening“. Heute ist Hansch 32 Jahre alt und von Beruf Meeresretterin.

Nur 16 Prozent des deutschen Plastikmülls werden wiederverwertet

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Ein Wertstoffhof in Erfurt

Jährlich verursachen die Deutschen rund 38 Kilo Plastikmüll pro Kopf – der vierthöchste Wert innerhalb der EU. Nur knapp 16 Prozent des Mülls werden wiederverwertet. Das geht aus dem „Plastikatlas 2019“ von BUND und Böll-Stiftung hervor. Der Rest wird demnach verbrannt oder ins Ausland verfrachtet – etwa nach Südostasien, wo viel Müll ungefiltert ins Meer gelangt. Anfang 2018 hatte China den Import von Plastikmüll drastisch eingeschränkt. Malaysia und Indonesien zogen kürzlich nach. Viele Länder, etwa  Äthiopien, Mali oder Papua-Neuguinea haben zur Müllreduzierung Plastiktüten zumindest teilweise verboten. In Kanada, Neuseeland oder den USA ist Mikroplastik in kosmetischen Produkten nicht erlaubt. (hol)

Ihr sauerländischer Dickkopf, wie sie sagt, könnte ihr dabei helfen, die Dinge bis zum Ende durchzuziehen. Denn den langen Atem wird sie brauchen. Immer wieder, sagt sie, bekommt sie Gegenwind. „Vom Finanzamt werden wir manchmal behandelt wie Schwerverbrecher.“ Auch am Geld hängt es. „Erst als wir ein Start-up gegründet haben, konnten wir Fördergelder auf Bundesebene beantragen.“

Fünf Millionen Euro braucht es für den Bau des ersten Prototyps. 200.000 sind vor einem Jahr durch eine Crowdfunding-Aktion reingekommen. Für den Rest „brauchen wir Spenden und Sponsoren“, sagt Hansch. Aber die Suche ist schwierig, denn Meeresrettung kann keinem perfekten Business-Plan folgen.

90 Prozent kommen durch große Flüsse ins Meer

Hansch und ihre ehrenamtlichen Mitstreiter sind daher ständig auf Werbetour für die gute Sache. Sie erzählen NRW-Ministerpräsident Armin Laschet von ihrer Vision, sprechen auf Messen, um Investoren zu begeistern. Ohne erhobenen, ideologischen Zeigefinger, dafür mit gesundem Menschenverstand. „Es geht nicht darum, Plastik zu verteufeln“, sagt Hansch, „aber ein Material, das für Jahrhunderte gemacht ist, nach 20 Minuten wegzuschmeißen, ist totaler Quatsch.“

Verbote für Strohhalme und Gabeln aus Plastik seien ein Anfang, glauben Hansch und Vesper, aber längst nicht genug. „Alternative Produkte müssen gefördert werden, die sind noch viel zu teuer“, sagt Hansch, „Und Plastik ersetzen und reduzieren, wo es geht“, ergänzt Vesper.

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Unvorstellbare Zustände in Indien: Ein Mann sucht an der vermüllten Küste vor Mumbai nach Verwertbarem.

Die Plattform soll da ansetzen, wo das Problem entsteht. 90 Prozent des globalen Meeresmülls gelangen durch zehn Flüsse in Asien und Afrika dorthin. 17 Prozent alleine durch den Jangtse in China, einen Strom von der fünffachen Länge des Rheins. Aber auch der längste Fluss der Erde, der Nil, ist zu einer riesigen Müllkippe verkommen und mit ihm das Mittelmeer.

Wenn man die Plattform direkt in die Mündungen der größten Mülladern setzte, käme der Kunststoff gar nicht erst in die Meere, hofft Hansch. Schiffe könnten durch eine freie Gasse vorbeifahren. Das gesammelte Plastik müsste aber vor Ort verwertet werden – die nächste Riesenaufgabe. Hansch schlägt vor, den Müll in Gas zu verwandeln und daraus Energie zu erzeugen.

„Im Meer hängt alles mit allem zusammen“

Das ließe sich auch mit dem besonders heiklen Mikroplastik tun, wenn es sich im Klärwerk für die Ozeane verfängt. Die winzigen, nahezu unsichtbaren Partikel dienen in Shampoos, Lippenstiften oder Sonnencremes als Bindemittel und sind im Wasser fast unlöslich. „Plastik-Plankton“ werden die Teilchen genannt, weil sie in großer Menge aussehen wie diese Mini-Krebse, von denen sich Wale in Tonnen ernähren.

Auch andere Tiere nehmen das Kleinstplastik auf – und über sie letztlich auch der Mensch. Eine Mahlzeit Muscheln soll rund 90 Partikel Mikroplastik enthalten. Pro Woche essen Menschen statistisch gesehen Plastik vom Gewicht einer Kreditkarte. Im Ökosystem Meer kommt alles irgendwann zurück zum Menschen, weil das Meer für ihn alles ist: Handelsweg, Lebensgrundlage, Sehnsuchtsort.

Projekt „Ocean Cleanup“ vorerst gescheitert

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Das Projekt „Ocean Cleanup“ im Pazifik ist vorerst gescheitert.

Der niederländische Student Boyan Slat entwickelte an der Universität Delft mit „The Ocean Cleanup“ das weltweit wohl bekannteste Konzept zur Reinigung der Meere. Es sieht vor, mit kilometerlangen, U-förmigen Schläuchen auf dem Wasser das Plastik an der Oberfläche zu sammeln. Der erste große Test im Herbst 2018 ging im Pazifik vor Kalifornien in Betrieb, musste jedoch nach zwei Monaten wegen Erfolglosigkeit abgebrochen werden. Zu viel Plastik war wieder aus  der Barriere herausgetrieben. Das Konzept war aber schon zuvor umstritten. Experten befürchten, dass sich vor den Schläuchen auch Algen und Meerestiere verfangen können. Trotzdem sind weitere Tests angekündigt. (hol)

Das System, nach dem wir leben, ist in Gefahr: Fischerei, die ganze Arten ausrottet, Schiffe, die es Walen und Delfinen unmöglich machen, zu kommunizieren, Überdüngung, die das Wasser vergiftet und Korallenriffe ruiniert, dazu das Plastik.

„Im Meer hängt alles mit allem zusammen“, sagt Vesper, „wie bei einem Jenga-Turm. Wir nehmen einen Stein nach dem anderen heraus. Der Turm wackelt, wir wissen nicht, wann er fällt. Aber ein Stein wird der letzte sein.“ Jemand muss den Turm halten. Marcella Hansch versucht es.

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