Der Krankenstand in Deutschland hat ein neues Rekordhoch erreicht, im internationalen Vergleich sind wir Spitzenreiter. Was sind die Gründe? Und wie sieht das in anderen Ländern aus? Mitri Sirin spricht mit Firmenchefs, einem Lieferfahrer und Expat in Spanien - und mit einem chronischen Blaumacher.
„Ich mache 28 Tage im Jahr blau“Mitarbeiter im öffentlichen Dienst packt in ZDF-Doku aus

ZDF-Reporter Mitri Sirin sprach mit einem anynomen Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, der jedes Jahr exakt 28 Tage blau machen - nach eigener Auskunft. (Bild: ZDF)
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Einblick in das Textilunternehmen Trigema in Burladingen, Schwäbische Alp: Nähmaschinen rattern, Mitarbeitende schneiden, falten und bügeln, auf ihren Arbeitstischen stapeln sich Berge an Sportklamotten - mittendrin Mitri Sirin, wie er sich seinen Weg zur Gruppenleiterin Carola Huber bahnt. Seit über 100 Jahren stellt Trigema Freizeit- und Sportbekleidung her, Huber arbeitet bereits seit 1981 hier. „Achtet denn ihr Betrieb darauf, dass es den Arbeitnehmer:innen gut geht?“, fragt Sirin in der neuen ZDF-Doku „Am Puls mit Mitri Sirin - Blaumacher-Republik Deutschland?“. Huber nickt: „Wir haben eine Gesundheitsfrau, die kommt und schaut, dass die Leute richtig sitzen, es gibt sogar Gymnastik.“
Pause für die Mitarbeitenden. Auf dem Flatscreen hinter Huber und Sirin erscheint ein Video. Ein Avatar in Fitnessklamotten macht Dehnübungen vor, die Mitarbeitenden strecken ihre Gliedmaßen im Einklang - sie scheinen die Routine schon gut zu kennen. Anschließend ein Gespräch mit dem Betriebsrat Karl-Josef Schoser. „Es gibt schon zwei bis drei Personen, die sich wegen jeder Kleinigkeit krankschreiben lassen, einige Kollegen denken dann, der simuliert“, sagt er in einem breiten Schwäbisch: „Manche sind gleich eine Woche weg.“
Dabei würden Mitarbeitende mit einem 50 Euro Tank-Gutschein belohnt werden, wenn sie sich wenig krankmelden. Nicht besonders nachhaltig - aber es scheint zu wirken. Der Krankenstand ist bei Trigema niedriger als im Bundesdurchschnitt.
Deutsche Unternehmen zahlen 77 Milliarden pro Jahr für Lohnfortzahlungen
Woran liegt das? Die Deutschen hatten schon immer recht viele Krankheitstage. Doch der größte Sprung zeigt sich während Covid: Waren es 2018 noch 10,6 Tage stieg die Zahl 2024 auf 14,8 pro Kopf. Das Problem: Die Krankheitskosten bleiben bei den Unternehmern hängen.
2023 mussten deutsche Unternehmen rund 77 Milliarden Euro für Lohnfortzahlungen aufbringen. Zum Vergleich: Für das Bürgergeld werden nur 24 Milliarden aufgewendet. Trigema-Gründer Wolfgang Grupp hat einen Vorschlag: Bei Krankheitstagen sollte es nur noch 80 Prozent Lohnfortzahlung geben. „Wir brauchen die Verantwortung und Haftung zurück. Vor allem Chefs müssen das vorleben, was sie von ihren Mitarbeitenden verlangen.“
Ist es zu einfach, sich in Deutschland krankschreiben zu lassen? Ein Cut nach Frankfurt. Besuch in der Praxis der Allgemeinmedizinerin Jenifer Blythe. Das Wartezimmer ist knallvoll. Auch heute hätte Blythe schon zig Krankheitsmeldungen ausgestellt. „Covid spielt immer noch eine Rolle, die psychische Belastung hat seitdem zugenommen“, sagt die junge Ärztin, die Haare zu einem blonden Zopf gebunden. Viele Krankeschreibungen stellt Blythe am Telefon aus. Aber kann man so erkennen, ob jemand wirklich krank ist? „Absolut sicher kann man sich nie sein. Pro Tag habe ich bis zu 40 Patient:innen, die sich krankmelden wollen. Wir wären handlungsunfähig, wenn wir alle vor Ort in der Praxis sehen würden“, sagt Blythe.
Privatdetektiv: „Da folgt dann oft mal die fristlose Kündigung“

(Bild: ZDF / Florian Lengert)
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Sirin recherchiert im Internet. Auf TikTok findet er Tutorials, wie man bei Arztgesprächen am besten simuliert, Tipps, wie man am einfachsten blaumachen kann. Online organisiert er sich einen AU-Schein. Für einen Aufpreis von 4,99 Euro bekommt er eine Krankschreibung, die länger als sieben Tage gilt. Das Ganze dauert nur wenige Minuten. Ein rechtlicher Graubereich - aber möglich. Im Internetforum Reddit schreiben User: „Mal ein Kater am Morgen oder ein Mittwoch frei, damit die Woche entspannter ist“ oder „Ein bisschen simulieren geht immer“. Haben die Deutschen ihr Verhältnis zur Arbeit geändert?
Ganz so einfach ist es nicht. Weiter geht es zu Privatdetektiv Norbert Idel nach Solingen. Bei einer Spritztour in seinem Auto erzählt er Sirin, wie sich die Anfragen von Arbeitgebern häufen, Mitarbeitenden nachzuspionieren, wo ein Verdacht besteht, dass diese blau machen. „In 80 Prozent der Fälle bewahrheitet sich das auch“, sagt Idel: „Da folgt dann oft mal die fristlose Kündigung.“ Doch nicht immer lümmeln die Blaumacher zu Hause auf der Couch herum - viele arbeiten Schwarz, zum Beispiel auf dem Bau oder in der Gastro, um sich etwas Geld dazuzuverdienen. „Das hat deutlich zugenommen“, sagt Idel.
Chronischer Blaumacher: „Dann sage ich halt, ich habe ein schwaches Immunsystem“
Offen übers Blaumachen reden? Ein Tabu. Sirin und sein Team haben es trotzdem geschafft und einen Mann gefunden, der über seine Erfahrungen spricht. In einem etwas abgedunkeltem Raum sitzt er an einem großen Tisch, trägt einen schwarzen Hoodie, die Kapuze ins Gesicht gezogen. Erst vergangenen Monat hat er das letzte Mal blau gemacht, erzählt er. Seit zehn Jahren meldet er sich pro Jahr 28 Tage krank. Im öffentlichen Dienst falle das nicht so sehr auf - die Akten blieben dann halt länger liegen. „Haben Sie keine Angst, dass der Arbeitgeber Statistik führt?“, fragt Sirin. Der Mann schüttelt den Kopf. „Dann sage ich halt, ich habe ein schwaches Immunsystem.“
Während die einen Faulenzen, strampeln die anderen sich ab. So zum Beispiel ein Lieferfahrer in Potsdam. Sein Gesicht ist von einer Maske und einer Brille bedeckt, er möchte anonym bleiben. Zu groß die Sorge, dass er seinen Job verliert. Täglich legt er bis zu 45 Kilometer zurück. Der Fahrer spricht in gebrochenem Englisch: „Die Bedingungen sind nicht gut in meinem Job, ich hatte schon einige Unfälle“. Die Stunden könne er aber nicht reduzieren, krankmelden- das käme nicht infrage.
Laut Statistik haben 79 Prozent der Deutschen kein Verständnis fürs Blaumachen. In Spanien scheint die Ablehnung noch viel größer zu sein. In Madrid wohnt Expat Robert Brückler, er arbeitet hier seit zehn Jahren als IT-Spezialist. Auf der Rooftop-Terrasse erzählt er Sirin: „Die Leute hier sind angewiesen auf ihren Job, die Sozialgelder sind niedriger, wer blau macht, riskiert seinen Job und landet schneller auf der Straße als in Deutschland.“ Die Deutschen wüssten gar nicht, wie gut es ihnen gehe.
Sind ein Sorgentelefon und Beach Club die Lösung?
Wie geht es also anders? Daran arbeitet ein Bauunternehmen in Hamburg. Bagger, Container und Stahlgerüste werden eingeblendet, Bauarbeiter mit Helm hetzen von einem Ort zum anderen. Für die rund 800 Mitarbeitenden ist Markus Buchhorn verantwortlich. Er weiß, die Belastung im Job ist hoch. „Corona, Krieg, Inflation - die Menschen kommen nicht zur Ruhe. Wir haben deshalb psychologische Hilfsangebote wie ein Sorgentelefon eingeführt und einen Beach Club angelegt, wo die Mitarbeitenden entspannen können“, so Buchhorn. Das sei zwar teuer - und etwas untypisch für eine Baufirma, wo der Ton sonst eher vulgär und rau sei - aber die Mitarbeitenden würden sich seitdem seltener krankmelden. Buchhorn: „Jeden Cent wert!“
Zurück in Spanien. Sirin sitzt mit Brückler und seiner Frau Paloma Hernandez zuhause im Garten. Sie trinken Weißwein, die beiden Töchter stehlen im Vorbeirennen Käsewürfel von den Tellern. „In Deutschland sieht man die Dinge eher pessimistisch, alles ist immer kurz vor der Katastrophe“, sagt Brückler. „In Spanien jammert kaum jemand, das ist schlecht angesehen“, fügt Hernandez hinzu. Eine Bezeichnung fürs Blaumachen? Das würde es im Spanischen gar nicht geben. „Haben Sie denn schon mal blau gemacht?“, fragt Sirin das Paar abschließend. Schweigen, nervöses Schulterzucken, betretene Blicke. „Vielleicht mal in der Schule“, sagt Hernandez - alle drei lachen.
Es wird wohl immer Leute geben, die das System ausnutzen. Aber man darf nicht vergessen: Auch der Druck ist höher geworden, die Arbeitsbedingungen oftmals schlechter, fasst Sirin zusammen. Wie wir da rauskommen? Mit Wertschätzung und gegenseitigem Respekt in einer Welt, die sich immer rasanter wandelt.
„Am Puls mit Mitri Sirin - Blaumacher-Republik Deutschland?“ läuft am Donnerstag, 29. Mai, 22.15 Uhr, im ZDF und vorab in der ZDF-Mediathek. (tsch)