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„Regime totaler Kontrolle“Amazon-Doku zeigt, wie US-Evangelikale „Soldaten für Gott“ rekrutierten

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Nach seinen Recherchen über Teen Mania kam Journalist Jeff Sharlet zu dem Schluss: „Teen Mania war die militanteste fundamentalistische christliche Jugendbewegung in den USA seit mindestens einem Jahrhundert.“ (Bild: Amazon Content Services LLC)

Nach seinen Recherchen über Teen Mania kam Journalist Jeff Sharlet zu dem Schluss: „Teen Mania war die militanteste fundamentalistische christliche Jugendbewegung in den USA seit mindestens einem Jahrhundert.“ (Bild: Amazon Content Services LLC)

„Wir waren die Marines für Team Christus“: Die fundamentalistische christliche Jugendbewegung Teen Mania verpasste in den 90er-Jahren tausenden Kindern und Jugendlichen eine Gehirnwäsche. In einer Amazon-Doku erinnern sich Betroffene nun an die Zeit zurück.

Ein US-Präsident ohne feste Kirchengemeinde - das galt in den Vereinigten Staaten lange als undenkbar. Trotzdem verdankt Donald Trump seine Rückkehr ins Weiße Haus auch dem Rückhalt aus den Reihen der Evangelikalen. Opportunistisch suchte der Republikaner im Wahlkampf die Nähe zu religiösen Extremisten. Die USA und ihre Evangelikalen - das ist nicht erst seit Kurzem eine widersprüchliche Beziehung, wie nun die Prime-Video-Doku „Shiny Happy People: A Teenager Holy War“ zeigt.

„Teen Mania war die militanteste fundamentalistische christliche Jugendbewegung in den USA seit mindestens einem Jahrhundert“, beschreibt Journalist Jeff Sharlet die Gruppierung, die im Mittelpunkt der zweiten Staffel der Amazon-Produktion steht. Von Ron Luce 1986 gegründet entwickelte sich Teen Mania während der darauffolgenden Jahre zum Gegenentwurf der von MTV proklamierten neuen Jugend- und Popkultur.

Phil Boltz arbeitete im Callcenter der Honor Academy als „Telefonverkäufer für Jesus“. (Bild: Amazon Content Services LLC)

Phil Boltz arbeitete im Callcenter der Honor Academy als „Telefonverkäufer für Jesus“. (Bild: Amazon Content Services LLC)

Statt sexueller Freizügigkeit schrieb es sich die Jugendbewegung auf die Fahnen Christlichkeit, Reinlichkeit und Gottesfürchtigkeit zu predigen. „Die säkulare Kultur war wie ein Tor. Wenn man seine Tür nur ein kleines bisschen öffnete, konnte der Teufel eindringen“, beschreibt Autorin und Ex-Teen-Mania-Angehörige April Ajoy das Narrativ von Luce.

Bei allem konservativen Gedankengut und Idealismus sprach die Glaubensbewegung aber rasch die Massen an - mit einer Art Eventisierung des Christentums. Coachella-gleich stellten Luce und seine Anhänger im Rahmen der „Aquire The Fire“-Veranstaltungen riesige Glaubensfeste in musikfestivalartigen Gewand auf die Beine.

Journalist fällt hartes Urteil über Teen Mania: „Sie wurden traumatisiert, terrorisiert“

„Wir kreieren ein christliches Folgeprodukt“, sei das Ziel von Teen Mania gewesen, schildert es Ex-Jünger Phil Boltz. Weil Ron Luce den Musiksender „gehasst“ habe, hätten auch er und seine Freunde MTV „boykottiert“. Mehr noch: „Aufopferung wurde fast ein Ziel.“ Mit dieser Idee und seinem Naturell als „Medienstratege und Showman“ sei es Luce rasch gelungen, Jugendliche in den gesamten USA für seine Idee als „Soldaten für Gott“ zu gewinnen, so Jeff Sharlet.

„Wenn ich mich zurückerinnere, sah ich nie eine andere Option“, dachte Carrie Saum einst über das Sterben als Märtyrerin. (Bild: Amazon Content Services LLC)

„Wenn ich mich zurückerinnere, sah ich nie eine andere Option“, dachte Carrie Saum einst über das Sterben als Märtyrerin. (Bild: Amazon Content Services LLC)

Doch mit „Aquire The Fire“ war es längst nicht getan. Luce entsandte seine Anhängerinnen und Anhänger auf Missionsreisen in die ganze Welt. Und für seine Elite hielt er in der Honor Academy in Form eines einjährigen Praktikums den Höhepunkt des dreistufigen Prozesses bereit. Was mit einem Ring „als Zeichen ewiger Treue“ begann, entpuppte sich jedoch für zahlreiche Betroffene als „Regime totaler Kontrolle“ (Sharlet). Statt Nächstenliebe prägten Denunziantentum, psychischer und physischer Missbrauch und ein zunehmend frei drehender Reinheitskult den Alltag in der Academy.

„Sie wurden traumatisiert, terrorisiert“, bringt es Sharlet auf den Punkt. Angst sei als „Mittel der Kontrolle“ eingesetzt worden. Luce habe selbst davor nicht zurückgeschreckt, das Opfer des Schulamoklaufs von Columbine 1999 zu instrumentalisieren: „Er war bereit einer Generation an Kindern beizubringen: 'Du bist entbehrlich, und vielleicht ist das Wertvollste, was du tun kannst, zu sterben.'“

Das Motto in der Elite-Akademie lautete: „Hör nicht auf deinen Körper und Verstand“

Unter striktem Gehorsam wurde den Academy-Absolventinnen und -Absolventen jeder „Raum für menschliche Identität“ abgesprochen, wie sich Corey Wright erinnert. Und die Gehirnwäsche von Luce und seinem Führungszirkel trug Früchte. „Wenn ich mich zurückerinnere, sah ich nie eine andere Option“, dachte Carrie Saum damals über das Sterben als Märtyrerin. Ein einwöchiges Bootcamp samt körperlicher Grenzerfahrungen sei nur Mittel zum Zweck gewesen, um alle „zu brechen“. Statt Namen trugen die Teilnehmenden nur noch Nummern, teils wurden die Gruppen nach Intelligenz aufgereiht.

„Wir waren die Marines für Team Christus“, beschreibt Zachariah Durr rückblickend seine Zeit in der Academy. „Dein Leben bedeutet nichts im Vergleich zu dem großen Ganzen“, fügt Liz Boltz in der Doku hinzu. Ihnen sei antrainiert worden, das „Ego auszuschalten“, ebenso wie die eigenen Bedürfnisse: „Hör nicht auf deinen Körper und Verstand!“ Die Arbeit in der Academy habe seine „Seele zermürbt“, klagt Liz' Bruder Phil, der im Callcenter als „Telefonverkäufer für Jesus“ arbeitete.

Mit der Zeit wurde die Weltanschauung von Ron Luce radikaler, seine Ambitionen einer Christianisierung der US-Bevölkerung politisch. „Wir waren im Krieg. Wir waren in Gottes Armee“, erinnerte sich Durr. Erst Ende 2015, also fast 30 Jahre nach der Gründung, war Teen Mania am Ende. Millionenschwere Schulden hatten Luces Imperium in den Insolvenz-Ruin geführt. Allein das Gedankengut und seine Lehre scheinen nach wie vor präsent zu sein. Dafür reicht ein Blick in die USA der Gegenwart. (tsch)