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„Wie eine arabische Stadt“ZDF-Reporterin staunt über syrischen Ladenbetreiber in Salzgitter

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Haithem Lafi erklärt, warum er sich für die Flucht nach Deutschland entschied. (Bild: ZDF/ Sebastian Wagner)

Haithem Lafi erklärt, warum er sich für die Flucht nach Deutschland entschied. (Bild: ZDF/ Sebastian Wagner)

Vor zehn Jahren sagte Angela Merkel als Bundeskanzlerin den heute historischen Satz „Wir schaffen das“. Millionen Menschen sind seitdem nach Deutschland geflüchtet. Doch wie leben die Menschen hier? Und hat Deutschland es tatsächlich „geschafft?“ ZDF-Journalistin Sarah Tacke zieht Bilanz.

„Wir schaffen das!“ Noch heute denkt man in Deutschland bei diesem Satz fast zwangsläufig an Angela Merkel. Damals machte sie in ihrer Rolle als Bundeskanzlerin 2015 genau dieses Versprechen und hieß geflüchtete Menschen in Deutschland willkommen. Doch wie sieht es heute aus?

Die ZDF-Reportage „Flucht und Krise - 10 Jahre 'Wir schaffen das'“ ist der Auftakt zu drei neuen „Am Puls“-Dokumentationen und beschäftigt sich genau mit dieser Frage. Über die sozialen Netzwerke startete Journalistin Sarah Tacke einen Aufruf und wollte wissen, wie die Menschen heute über Merkels Satz denken und wie sie die Migration in Deutschland erleben.

Tausende haben sich gemeldet. Schnell wird deutlich, viele Bürgerinnen und Bürger beschäftigt das Thema Migration - und es gibt eine klare Tendenz. „Den meisten Menschen, die mir geschrieben haben, macht sie Angst“, erklärt Tacke. Die meisten der geflüchteten Menschen stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Vor allem die Zahl der syrischen Einwanderer ist seit 2015 stark angestiegen. Waren es 2014 noch rund 118.196 Menschen, wurden im Jahr 2024 insgesamt 975.060 registriert.

„Erkenne mein Salzgitter nicht wieder“: ZDF-Journalistin erhielt Tausende Zuschriften

Sarah Tacke trifft Haithem Lafi der in Salzgitter ein Modegeschäft betreibt. (Bild: ZDF/Sebastian Wagner)

Sarah Tacke trifft Haithem Lafi der in Salzgitter ein Modegeschäft betreibt. (Bild: ZDF/Sebastian Wagner)

„Ich fühle mich total fremd in meiner eigenen Stadt“ oder die eigene Stadt sei „von Syrern überrollt worden“ heißt es in einigen Zuschriften an Sarah Tacke. Eine Nachricht sticht ihr besonders ins Auge: „Ich erkenne mein Salzgitter nicht wieder, weil zu viele Menschen in den letzten zehn Jahren zugewandert sind. Mehr, als die Stadt verträgt“, heißt es darin.

Die Journalistin macht sich daraufhin auf den Weg in die niedersächsische Stadt, genauer gesagt in den Stadtteil Lebensstet. Hier beträgt der Ausländeranteil 34,7 Prozent. Das ist der höchste Wert in Salzgitter.

Fünf Prozent der Menschen hier sind aus Syrien, seit 2015 hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Tacke trifft den Syrer Haithem Lafi. Er betreibt in Lebensstet einen Modehandel. Über die Entscheidung, sein Leben in Syrien hinter sich zu lassen, sagt er: „Das war eine schwere Entscheidung, weil ich bin eigentlich Zahntechniker. Ich habe gar nicht mit Klamotten gearbeitet.“

In Syrien hatte er sein eigenes Zahnlabor, in Deutschland müsste er dafür erneut eine Ausbildung machen. Doch fremd fühlt sich Lafi hier nicht. Er erklärt: „Hier in Salzgitter gibt es viele muslimische Leute, viele Moscheen (...) Leute, die nicht gut Deutsch sprechen, haben keine Probleme hier in Salzgitter.“

„Wenn alle Leute Arabisch sprechen, ist das wie eine arabische Stadt“

Tacke will wissen, ob er sich nach zehn Jahren integriert fühlt: „Ich kann das leider nicht so sagen. Ich finde mich immer wieder bei den arabischen Leuten wieder. Ich finde, die Kultur ist einfach die beste. Vielleicht ist das falsch, aber das ist mein Empfinden.“ Die Journalistin fragt ihn, ob sich sein Leben hier von dem in Syrien unterscheide. Der Ladenbetreiber verneint und erklärt: „Wenn alle Leute Arabisch sprechen, ist das wie eine arabische Stadt.“

Sarah Tacke trifft Niro Degen, der nach seiner Flucht aus Syrien einen neuen Namen angenommen hat.
 (Bild: ZDF/ Leonard Bendix)

Sarah Tacke trifft Niro Degen, der nach seiner Flucht aus Syrien einen neuen Namen angenommen hat. (Bild: ZDF/ Leonard Bendix)

Am Abend trifft die Journalistin Haithem Lafi gemeinsam mit seiner Freundesgruppe wieder. Alle Männer stammen aus Syrien und sind in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Sie haben sich in der Moschee, auf dem Markt, im Deutsch-Sprachkurs oder auf Hochzeiten kennengelernt.

Alle haben einen Job in Deutschland, zwei von ihnen sogar einen deutschen Pass - dennoch bleiben sie unter sich, unterhalten sich auf Arabisch. Tacke gesteht: „Es kommt mir vor wie ein syrisches Zuhause, mitten in Niedersachsen.“

„Es kommt mir vor wie ein syrisches Zuhause, mitten in Niedersachsen“

Einer der Männer erklärt, die ersten zwei, drei Jahren in Deutschland seien schwer gewesen. Nun fühle er sich aber glücklich. Er habe sich an die Bräuche hier gewöhnt und wolle sie nicht mehr missen. Die Journalistin ist skeptisch: „Auf mich wirkt das eher nach einem syrischen Leben in Salzgitter“, betont sie vor der Kamera.

Doch es gibt auch andere Fälle. Wie etwa der Syrer Niro Degen. Der junge Mann hat gerade sein Lehramts-Examen abgeschlossen, spricht fließend Deutsch und unterrichtet mittlerweile an einer Schule Deutsch und Musik. Bei ihrem Treffen fällt Sarah Tacke etwas Kurioses auf - denn Niro spricht mit fränkischem Dialekt.

Auf die Nachfrage erklärt der Geflüchtete, sein erster Berührungspunkt mit der deutschen Sprache sei Fränkisch gewesen: „Ich mag diesen Dialekt, ich find den so toll und der klingt auch einfach schön“, beteuert Niro. Tacke erzählt er lachend, er „bestehe drauf, dass meine zukünftigen Kinder arabisch und auch Fränkisch lernen“. Er ist 2015 im Alter von 19 Jahren gemeinsam mit seinem besten Freund aus Syrien nach Deutschand geflohen. Für ihn eine erfolgreiche Entscheidung.

„Ich hab immer rechtfertigen müssen, dass ich kein Islamist bin“

Er fühle sich hier wohl, sicher und willkommen. Nach seiner Flucht änderte er seinen arabischen Vornamen zu Niro, mittlerweile trägt er auch den deutschen Nachnamen seiner Frau. „Ich hab immer rechtfertigen müssen, dass ich kein Islamist bin - nur wegen meines Namens“, erzählt er und betont: „Ich habe von meinem Nachbarn gelernt, dass zur Intelligenz Anpassung gehört.“

Dass dies nicht für jeden geflüchteten Menschen so einfach funktioniert, darüber ist sich Niro Degen im Klaren. Er weiß: „Ich hatte das Glück, Menschen zu haben, die mir zur Seite gestanden haben - von Anfang an.“ Er habe „Diskrimierung erlebt, aber auch echte Solidarität und echt Liebe. Ich hab beides gesehen und beides kennengelernt.“

Das ZDF zeigt „Am Puls mit Sarah Tacke: Flucht und Krise - 10 Jahre 'Wir schaffen das'“ am Donnerstag um 22.15 Uhr. (tsch)