18-Jährige getötetWeitere Erkenntnisse zu Messerangriff an Schule – Verdächtigter erhielt Gefährderansprachen

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Nach einem Unfall steht ein schwer beschädigtes Auto in Seesen

Nach der Gewalttat an einer Schule in St. Leon-Rot bei Heidelberg ist der flüchtige mutmaßliche Täter mit seinem Auto in Niedersachsen in den Gegenverkehr geraten und bei einem Zusammenstoß verletzt worden. Der 18-Jährige sei danach vorläufig festgenommen worden.

Ein Gymnasiast soll eine Schülerin getötet haben. Zwei Monate zuvor hatte sie ihn bereits angezeigt. Hätte die Tat verhindert werden können?

Einen Tag nach dem tödlichen Messerangriff auf eine Schülerin in St. Leon-Rot werden immer mehr Details über die Tat und über die Beziehung zwischen dem mutmaßlichen Täter und dem 18-jährigen Opfer bekannt. 

Demnach hatte die Schülerin gegen den Beschuldigten bereits im November Strafanzeige wegen körperlicher Gewalt gestellt, wie Staatsanwaltschaft und Polizei mitteilten. Details zur Anzeige nannten sie zunächst nicht. Ob und inwiefern infolge der Anzeige gegen den mutmaßlichen Täter ermittelt wurde, blieb ebenfalls unbeantwortet. Abgesehen von dieser Anzeige aus dem November 2023 sei der Verdächtige strafrechtlich bislang nicht in Erscheinung getreten, hieß es.

Gewalttat an Schule: Verdächtigter erhielt Gefährderansprachen

Die Polizei habe nach der Anzeige wegen Körperverletzung Zeugen und den Beschuldigten vernommen. Wenige Tage nach dem Vorfall sowie Mitte Dezember 2023 hätten die Beamten zudem sogenannte Gefährderansprachen gehalten. Die Polizei hatte den Angaben zufolge auch Kontakt zum Jugendamt und der Schulleitung aufgenommen in der Sache. Die Schule habe dann „Maßnahmen der Kontaktbeschränkung im Schulbetrieb“ getroffen. Ein gerichtlich angeordnetes Kontaktverbot gab es nicht.

Nach bisherigen Erkenntnissen waren das Opfer und der mutmaßliche Täter im Jahr 2023 zeitweilig liiert. Zum Zeitpunkt der Tat sei die Beziehung jedoch bereits beendet gewesen, so die Staatsanwaltschaft.

Schule wollte Kontakt zwischen 18-Jährigem und Opfer unterbinden

Der 18-Jährige sollte seinem Opfer nach einer Intervention der Schule eigentlich nicht mehr über den Weg laufen. Die Schule habe sich nach einer Anzeige der Schülerin wegen Körperverletzung im vergangenen Jahr mit der Polizei abgestimmt, teilte der Kommunikationsexperte Dirk Metz am Freitag im Rathaus der Gemeinde mit. Metz war von der Schule in der Sache beauftragt worden.

Es seien nach sorgfältiger Abwägung Vereinbarungen getroffen worden, dass die beiden Personen sich „möglichst nicht begegnen“, sagte Metz. „Das war das Hauptziel.“ Zuletzt hätten alle Beteiligten den Eindruck gehabt, dass sich die Dinge beruhigt hätten. „Hundertprozentige Sicherheit gibt es halt nicht.“

Schülerin stirbt in St. Leon-Rot – Opfer hatte Tatverdächtigen angezeigt

Die genauen Hintergründe der Tag bleiben am Freitag unklar. Auch die Nationalität des Tatverdächtigen teilten die Behörden zunächst nicht mit.

Der Bürgermeister von St. Leon-Rot zeigte sich nach der Tat tief betroffen: „Der gewaltsame Tod der Schülerin im Löwenrot-Gymnasium ist für uns alle schockierend, eine entsetzliche Tat, die uns alle in der Gemeinde fassungslos macht. Unser tiefes Mitgefühl ist bei den Angehörigen des Mädchens und der Schulgemeinschaft des Löwenrot-Gymnasiums“, so Dr. Alexander Eger in einem Statement. Er wünsche den Angehörigen und der Schulgemeinschaft „viel Kraft für die Bewältigung dieser erschütternden Krise“.

Schüler flüchtet nach Tat in St. Leon-Rot über 300 Kilometer mit dem Auto

Am Freitag soll das Amtsgericht Heidelberg entscheiden, ob der mutmaßliche Täter in Untersuchungshaft kommt. Der 18-jährige Schüler des Privat-Gymnasiums „Löwenrot“ in St. Leon-Rot steht unter dringendem Tatverdacht, das gleichaltrige Opfer am Donnerstag mit einem Messer umgebracht zu haben. Versuche, das Opfer zu reanimieren, blieben erfolglos.

Nach der Tat flüchtete der Tatverdächtige mit einem Auto. Knapp drei Stunden später wurde er im Rahmen einer Großfahndung in Niedersachsen verhaftet, nachdem er einen Unfall gebaut hatte. Die Tat hatte sich zuvor in Baden-Württemberg, rund 312 Kilometer Luftlinie vom Ort der Festnahme in Seesen, abgespielt.

Schüler tötet Schülerin: Häufen sich solche Vorfälle?

Es ist nicht der einzige derartige Fall in jüngster Vergangenheit: Im November hatte ein 15-jähriger Deutscher in einer sonderpädagogischen Schule in Offenburg einen gleichaltrigen Mitschüler erschossen.

Nach einem Unfall steht ein schwer beschädigtes Auto in Seesen. Nach der Gewalttat an einer Schule in St. Leon-Rot bei Heidelberg ist der flüchtige mutmaßliche Täter mit seinem Auto in Niedersachsen in den Gegenverkehr geraten und bei einem Zusammenstoß verletzt worden.

Nach einem Unfall steht ein schwer beschädigtes Auto in Seesen. Nach der Gewalttat an einer Schule in St. Leon-Rot bei Heidelberg ist der flüchtige mutmaßliche Täter mit seinem Auto in Niedersachsen in den Gegenverkehr geraten und bei einem Zusammenstoß verletzt worden.

Dennoch sind solche Ereignisse selten. „Natürlich ist jeder Fall einer zu viel“, sagte Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP). „Aber wenn man Deutschland mit den USA vergleicht, ist Deutschland absolut friedlich.“ Und wenn man die Vorfälle in Offenburg und St. Leon-Rot ins Verhältnis zu Millionen von Schülerinnen und Schülern setze, sei Schule ebenso friedlich. Jugendliche und junge Erwachsene, die solche Taten begehen, seien oft einsam und hätten Probleme.

Experten äußern sich zu Tötungsdelikt an Gymnasium in St. Leon-Rot

Eltern sollten sich nach Seifrieds Worten Zeit nehmen und fragen, wie es ihren Kindern geht. „Auch für 15-, 16-, 17-Jährige.“ Viele wüssten nicht, was ihre Kinder am Computer treiben, welche Sorgen sie haben.

Gewalt unter Kindern und Jugendlichen hat nach Einschätzung von Prof. Sibylle Winter nicht zuletzt infolge der Corona-Pandemie zugenommen. Das zeige sich sehr selten in schwerster Gewalt wie den beiden Tötungsdelikten in Baden-Württemberg, sagte die stellvertretende Klinikdirektorin und leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité. „Aber es gibt mehr emotionale Gewalt. Es wird mehr geschrien, mehr beleidigt.“ Mobbing beispielsweise nehme zu.

Gewalt und Mobbing an Schulen nimmt laut Expertin zu

Als Grund nannte die Expertin unter anderem die Lockdowns mit geschlossenen Schulen und dem sogenannten Homeschooling. „Corona hat die Menschen drei Jahre lang ausgeknockt“, sagte Winter. Vor allem in der Schule, im Miteinander erwerbe man aber soziale Kompetenzen. „Das lernt man nicht, wenn man allein vorm Computer sitzt.“ Daher sei es wichtig, in der Schule zusammen zu sein.

Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern vor allem ein Ort des sozialen Miteinanders.
Klaus Seifried

Schule könne ein stabilisierender Faktor sein, gerade wenn es die Verhältnisse im Elternhaus womöglich nicht sind, sagte Seifried, der auch 2. Vorsitzender der Sektion Schulpsychologie im BDP ist. „Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern vor allem ein Ort des sozialen Miteinanders.“ An Schulen, die Wert auf gutes Klassen- und Schulklima legen, gebe es weniger Gewalt als an solchen, an denen Anonymität, Konkurrenz und Leistungsdruck herrschen. Auch die Leistungen würden besser, wenn ein gutes Schulklima, Beziehungsaufbau und Partizipation gefördert würden.

Experte nach Tat in St. Leon-Rot: „Können solche Taten nicht verhindern“

Ein wichtiges Frühwarnsystem seien Mitschüler, sagte der Psychologe. Sie bekämen mit, wenn jemand abdrifte, es jemandem nicht gut gehe. Das sei mit viel Verantwortung verbunden. Manche Schulen bildeten Streitschlichter oder Konfliktlotsen aus, die dann hinreichende Sensibilität und Kompetenz hätten. Sollte die Polizei eingeschaltet werden müssen, sollten dies aber Erwachsene machen.

Wichtig findet Winter, dass Schulen Schutzkonzepte etablierten. Dazu gehöre ein Verhaltenskodex, der Verhaltensregeln festlegt wie gegenseitiger Respekt und Verzicht auf Gewalt.

„Trotzdem können wir solche Taten nicht verhindern“, sagte Seifried. „Wenn jemand dort aufwächst, wo Gewalt als Methode der Konfliktlösung vorgelebt wird, kann Schule nur in begrenztem Maße kompensatorisch dagegen vorgehen.“ Auch aus therapeutischer Sicht macht es laut Winter einen Unterschied, ob ein Täter etwa aus Frustration aggressiv wird oder mit Gewalt groß wurde. „Wer gelernt hat, mit Aggressionen Probleme zu lösen, ist therapeutisch schwerer erreichbar.“ (mit dpa)

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