Vor 200 JahrenWarum die NRW-Wälder früher aussahen wie Mondlandschaften

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Gab es früher die Wald-Idylle, um die wir uns heute große Sorgen machen müssen? Mitnichten! Unser Foto zeigt einen Wald bei Osnabrück (Nordrhein-Westfalen).

  • Vor 200 Jahren sahen die Wälder im Rheinland aus wie eine Mondlandschaft – aufgrund von Viehhaltung und Rodungen.

Die Vorstellung der Deutschen vom Wald in historischen Zeiten ist märchenhaft. Im wörtlichen Sinne. Fragt man die meisten, dann glauben sie, dass fast die ganze heutige Republik vor einigen Hundert Jahren mit mächtigen Bäumen bestanden war. Eine Art Nationalpark am Rhein, mit riesigen alten Eichen und Buchen, Hirschen, Wölfen, Bären, dunkel und undurchdringlich. Wie in Grimms Märchen beschrieben halt. Aber genau das ist eine Mär. Selbst im „finsteren Mittelalter“ waren die Wälder im Westen des heutigen Deutschland alles andere als finster.

Seit Beginn der Völkerwanderung bis etwa 1400 fand etwas statt, das Forsthistoriker als „große Periode der Rodungen“ bezeichnen. Darauf weisen auch noch zahlreiche Ortsbezeichnungen zurück, im Bergischen Land etwa Radevormwald, also die Rodung vor dem Wald. Zu dieser Zeit war Deutschland nur noch auf etwa einem Drittel seiner Fläche von Wald bedeckt.

Woher dennoch das Bild vom tiefen, mythischen Wald in dieser Zeit kommt, ist unklar. Vielleicht aus der Zeit vor der Völkerwanderung. Ein kurzer Blick zurück. Nach der letzten Eiszeit war das Klima in unseren Breiten noch rau. Man geht davon aus, dass vor allem Bergkiefern die ersten Bäume waren, die sich ihren neuen Lebensraum erschlossen. Als es wärmer wurde, folgten Birken und Weiden, bekannt als Pionierbaumarten. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Liegt eine Fläche brach, sind Birken und Weiden die ersten Gehölze, die sich auf einer Fläche breitmachen und Sträucher oder Büsche überragen. Auf die Pionierbäume folgten vor etwa 9000 Jahren lichte Eichenwälder. Und schließlich machte sich die Buche, die gern im Schatten anderer Bäume aufwächst, an fast allen Orten breit. In der Forstgeschichte geht man davon aus, dass spätestens vor circa 6000 Jahren großflächige, dunkle Buchenwälder, die immer dichter und undurchdringbarer wurden, das Bild beherrschten. Zwei Drittel der Fläche Deutschlands waren davon bedeckt, nur an Flussläufen oder im Hochgebirge waren sie nicht vertreten.

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Es liegt nah, anzunehmen, das diese Urwälder sich über Generationen als Archetyp des „Deutschen Waldes“ in den Köpfen verfestigt haben. Der Römer Publius Cornelius Tacitus gab als erster schriftlich Auskunft über unsere Vorfahren, die Germanen, und darüber, wie es hierzulande vor langer Zeit aussah. Seine kleine Studie „Germania“ begründete den Mythos vom schaurigen Wald, in dem die Barbaren und Räuber ihr Unwesen trieben. Ein Wald, so dicht, dass er den Germanen dabei half, sich die Römer vom Hals zu halten. So werden die Kämpfe des Arminius gegen Varus’ Legionen auch stets so beschrieben, als hätten sie in tiefen dunklen Wäldern stattgefunden.

Historiker aber widerlegen heute Tacitus’ Bild vom dichten Wald. Auch vor 7000 Jahren rodeten jene Germanen fleißig den Urwald, wie heute die oft kritisierten Brasilianer ihren Regenwald, schreibt Hansjörg Küster. Er ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz-Universität Hannover und hat zahlreiche Bücher über den Wald veröffentlicht, auch eine „Geschichte des Waldes“.

„Zwar verehrten Kelten und Germanen einzelne Bäume, dennoch begannen sie, Platz um ihre Siedlungen zu schaffen“, schreibt der bekannte Förster Peter Wohlleben in seinem Buch „Der Wald – eine Entdeckungsreise“. Der Mensch ist von seiner Genese her ein Steppenbewohner, und so machte er sich aus den einstigen Urwäldern eben eine Steppenlandschaft. So viel zum Mythos.

Spätestens im Mittelalter wuchsen sich die Rodungen zum ernsthaften Problem aus. Das hat neben den Siedlungs-Rodungen drei Gründe. „Holz war in jener Zeit die einzige Energiequelle zum Heizen. Und so rodeten die Menschen je nach Bedarf“, sagt Stephan Schütte, Leiter des Regionalforstamtes Rhein-Sieg-Erft im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Außerdem war Holz die Grundlage für den Hausbau (nur Burgen waren aus Stein). Der zweite Grund: „Der Wald wurde als Weidefläche genutzt“, sagt Schütte. Die Beweidung mit domestizierten Tieren war in Mitteleuropa seit der Frühbronzezeit (um 2200 vor Christus) im Wald weit verbreitet. Sie diente ausschließlich der Tierernährung und wurde, soweit durchführbar, ganzjährig und möglichst großflächig praktiziert. Nicht nur Schweine, Schafe und Ziegen wurden in den Wald getrieben, sondern auch Großvieh wie Kühe und Pferde. Ein Gemälde aus dem Besitz des Adligen Duc de Berry, entstanden um 1416, zeigt einen Mann, der mit einem Hund Hausschweine hütet, die in einem herbstlichen Wald Eicheln fressen. „Die Folge war, dass kaum noch neue Bäume nachwuchsen“, sagt Schütte. Zusätzlich belastend: Da die Menschen Stroh noch nicht als Einstreu im Stall nutzten, nahmen sie stattdessen Laub aus den Wäldern. „Über Jahrhunderte führte das im Wald zu einem zunehmenden Nährstoffmangel“, sagt Förster Schütte. 300 Jahre lang sollen die Folgen des Raubbaus am Laub spürbar sein. Der Wald im Mittelalter und in der frühen Neuzeit dürfte also ziemlich trostlos ausgesehen haben.

Die Lage verschärfte sich noch. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert war Eisen, Glas oder Salz begehrt, Kohle als Energielieferant aber noch unbekannt. So wurden mehr und mehr Bäume geschlagen. Teils wurde daraus Holzkohle gemacht, teils wurden die Bäume als Stützen im Eisen-Bergbau verwendet. Schließlich wurden die verbliebenen Stämme von durch Kriege verarmten Landadligen in die Städte verkauft, etwa zum Schiffbau.

Zwischen 1750 und 1850 befand sich der Wald wohl im schlechtesten Zustand. Um 1800 waren in Deutschland kaum noch geschlossene Wälder vorhanden. Zeitgenössische Darstellungen sprechen teilweise von wüstenähnlichen Landschaften. „Etwa im Abstand von 50 Metern standen noch vereinzelte Bäume, teilweise Gerippe“, sagt Förster Schütte. Man kann sich die Wälder des Rheinlands wie die heutige Lüneburger Heide vorstellen, oder Teile der Wahner Heide im Kölner Süden. Für den Oberbergischen Kreis ist etwa belegt, dass dort vor gut 200 Jahren Birkhühner gejagt wurden. Sie besiedeln nur offene, locker mit Gebüsch und Bäumen durchsetzte Landschaften, in Deutschland vor allem Truppenübungsplätze. Und wie die aussehen, ist bekannt.

Kern des Problems: Es gab so gut wie keinerlei Regulierung für die Nutzung der Wälder, weder als Weide noch als Holzlieferant. „Das änderte sich erst mit dem Einzug der Preußen ab 1815 im Rheinland“, sagt Schütte. Sie schufen als Erste in der Region eine staatliche Forstverwaltung. Diese war geprägt vom heute wieder modernen Begriff der Nachhaltigkeit. Im forstlichen Sinne – und daher stammt der Begriff eigentlich – heißt das kurz gesagt: Es werden nur so viele Bäume entnommen, wie neu gepflanzt werden.

Die Wiederbewaldung wurde ausgerechnet durch die Industrialisierung unterstützt. Denn als Energielieferanten setzten die Unternehmen auf Wasserkraft und vor allem auf Steinkohle. Das machte Holz als Brennstoff unattraktiver.

Zur Serie

Als man im März die Ergebnisse der Waldzustandserhebung 2020 vorstellte, wurde deutlich, dass der Wald schwer krank ist. In einer Serie beleuchtet der „Kölner Stadt-Anzeiger“ verschiedene Aspekte des Natur-, Wirtschafts- und Erlebnisraums Wald .

Allerdings setzten die Preußen nicht auf die ursprünglich heimische Buche, sondern auf Nadelbäume wie Kiefern und Fichten. Aus ihrer Sicht war das logisch. „Die Flächen sahen Kahlschlägen nicht unähnlich, und auf diesen freien Grundstücken gedeihen Fichten viel einfacher als die schattenliebende Buche“, erklärt Stephan Schütte. Die Förster bauten Wege, um junge Pflanzen anzutransportieren. Die Abgrenzung zwischen Wald und Flur wurde neu definiert. Stroh löste das Laub als Einstreu ab. Mit dem Forstpolizeigesetz von 1902 wurde schließlich auch die Waldweide als Nutzungsform verboten. So ist es bis heute.

Es dauerte Jahrzehnte, bis die Wälder wieder weite Teile des Landes bedeckten. Heute sind 32 Prozent Deutschlands bewaldet. Doch der Kraftakt der preußischen Förster hinterließ leider ein schweres Erbe. Die Monokulturen der nicht heimischen Fichten sind dem Klimawandel, häufigeren Stürmen und dem Borkenkäfer nicht gewachsen. Das wurde in den vergangenen drei Sommern klar. Bekannt ist das Problem seit Jahrzehnten. Schon das Försterlehrbuch „Waldwirtschaft“ warnt in den 1960er-Jahren vor den Gefahren der Fichten-Monokulturen. Heute gilt das Ende der Fichte im milden Rheinland als besiegelt. Und so beginnt die Geschichte von vorn.

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