BeschneidungBeschnitten und traumatisiert

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Ein Beschneidungsbesteck aus Messer und Vorhautschutz auf einem Gebetsbuch.

Ein Beschneidungsbesteck aus Messer und Vorhautschutz auf einem Gebetsbuch.

Es schmerzte, als die Betäubung nachließ. Unter dem Verband kam eine blutverkrustete Naht zum Vorschein. Mein Geschlechtsteil bot keinen schönen Anblick. Erst nach einer Woche war die Wunde halbwegs verheilt.

Anders als die meisten jüdischen Männer kann ich mich an meine Beschneidung erinnern, weil ich sie erst als erwachsener Mann vornehmen ließ – ganz so, wie es uns viele kritische Zeitgenossen heute raten: Wartet, bis ihr alt genug und religionsmündig seid! Dann könnt ihr selbst entscheiden.

Diesen Gedanken hatte mein Vater nicht, als er Anfang der 1960er-Jahre entschied, mich nicht beschneiden zu lassen. Seit Jahrhunderten wurden in unserer Familie alle Knaben am achten Tag nach der Geburt beschnitten. Mein Vater erlebte dieses körperliche Merkmal jedoch als verräterisch in den Augen der ihn verfolgenden „arischen“ Mehrheit. „Deshalb hielt ich es für besser, dich nicht als Juden in Deutschland aufwachsen zu lassen“, begründete er die Unterlassung.

Dennoch saß er Jahre später stolz neben der Liege, auf der ich von einem jüdischen Arzt beschnitten wurde. Mein Vater, der alle Religionen gleichermaßen verabscheut, sich aber selbstverständlich als Jude versteht, sprach stolz die hebräischen Worte, mit denen ich „in den Bund Abrahams“ aufgenommen wurde. Denn die Beschneidung ist nicht nur ein religiöses Ritual, sie ist auch das Symbol des Überlebens. Mit ihr bin ich in die Linie meiner Groß- und Urgroßväter eingetreten, die verfolgt und ermordet wurden. Die Beschneidung ist ein Sieg über Hitler. Wir sind noch da. Wir leben.

Für Juden verläuft die Debatte fatal

„Dennoch. Könnt ihr nicht eine moderne Variante entwickeln?“, fragt die nichtjüdische Mehrheit. Gäbe es nicht ein Ritual, das eine die körperliche Unversehrtheit des Individuums achtende Gesellschaft tolerieren würde? So unblutig wie die Taufe etwa? Eine berechtigte Frage.

Doch für uns Juden verläuft die Debatte fatal. Sie trifft uns zur Unzeit – bis ins Mark. Nicht, weil die Mehrheit der leserbriefschreibenden Deutschen von Antisemitismus getrieben wäre. Derlei Angriffe sind wir gewohnt, auch wenn wir uns nie daran gewöhnen werden. Nein, die Beschneidungsgegner führen nachvollziehbare ethische, juristische und medizinische Bedenken ins Feld und wollen keineswegs – wie die Generation der Großväter – jüdisches Leben in Deutschland ausmerzen. Fatal ist, dass durch eine breite, gesellschaftliche Debatte, die nicht primär von Judenfeindschaft befeuert wird, die winzige jüdische Existenz in Deutschland so grundlegend infrage gestellt wird wie noch nie seit dem Ende des Nationalsozialismus. Denn die nichtjüdische Mehrheit ignoriert in ihrem Eifer, in welchem Zustand sich das deutsche Judentum seit 1945 befindet und, dass es ohne die Schoah die Beschneidung gerade in Deutschland in ihrer heutigen Form womöglich kaum mehr gäbe.

Schon im 19. Jahrhundert nannte der in meiner Geburtsstadt Wiesbaden amtierende, berühmte Reformrabbiner Abraham Geiger die Beschneidung einen „barbarisch blutenden Akt“. Geiger, der 1874 starb, war einer der Begründer des liberalen Judentums, das von Deutschland aus die jüdische Welt eroberte. 50 Jahre nach Geigers Tod gab es in Wiesbaden 3 000 Juden, darunter nur noch 100 orthodoxe. Die liberale Mehrheit hatte sich bis zur Unkenntlichkeit in die bürgerliche Gesellschaft integriert.

Die Frage, ob Beschneidungen sein müssen, wird im liberalen Judentum, dem heute weltweit die meisten Juden zugehören, seit Geigers Zeiten diskutiert, ebenso wie die Frage, ob in der Synagoge Männer und Frauen getrennt sitzend ausschließlich auf Hebräisch statt auf Deutsch beten müssten. Deutschland ist der Geburtsort jener Ideen, die das Judentum in die Moderne geführt und den Juden den Weg zur rechtlichen Gleichstellung geebnet haben.

Hätte man uns diesen Weg weitergehen lassen, gäbe es heute mit hoher Wahrscheinlichkeit eine moderne Alternative zur Beschneidung, und ein Rabbiner, der in einer Talkshow mit der Bibel herumfuchtelt, die er „Gottes Wort“ nennt und das wortwörtlich meint, wäre so repräsentativ für das Judentum wie ein Piusbruder für den Katholizismus.

Doch der Weg des deutschen Reformjudentums endete nicht in der Moderne, sondern in Auschwitz. Die Überlebenden verließen das Land der Mörder. Übrig blieb ein kleines, verunsichertes Häuflein: Juden, denen die Talente oder die Mittel fehlten, sich andernorts eine Existenz aufzubauen; Juden, die zu traumatisiert waren, um auszureisen; Juden, die wie mein Großvater von Heimatliebe so besoffen waren, dass sie zurückkehrten. Sie alle rangen jahrzehntelang um ihre Identität, dem Spott der restlichen jüdischen Welt ausgesetzt, weil sie wie Lämmer unter Metzgern lebten. Um diese seelische Last zu bewältigen, wurden die deutschen Juden fromm, jüdischer als jüdisch, und buhlten um Anerkennung durch das orthodoxe Establishment Israels, das dort inmitten einer säkularen Mehrheit einflussreich ist. Zu dieser Seelenarbeit gehört, die Söhne beschneiden zu lassen und sie so als (Über-) Lebende zu zeichnen.

Judentum auch ohne Beschneidung denkbar

Historisch war die Beschneidung ein Mal der Unterscheidung, das es Juden jahrtausendelang ermöglicht hat, als Minderheit in einer feindlichen Umgebung sichtbar zu bleiben. Gegenwärtig ist sie der Beweis, dass selbst der Holocaust das Judentum in Deutschland nicht völlig ausgelöscht hat, wie es Leo Baeck, der letzte große Reformrabbiner, der Theresienstadt überlebte, prophezeit hatte. Dass die Beschneidung als Identität und Gemeinschaft stiftendes Ritual heute unter Juden weniger umstritten ist als noch vor 100 Jahren, ist ein Ergebnis deutscher Geschichte.

Doch dabei muss es nicht bleiben. Natürlich ist ein Judentum ohne Beschneidung denkbar. Diskutieren, streiten, Regeln aufstellen, um sie wieder zu verändern, das ist jüdischer Alltag. Noch mag die Mehrheit auch der säkularen Juden nicht auf die Beschneidung verzichten. Salopp formuliert: Wir brauchen sie, solange der Geruch der Asche noch in unseren Kleidern steckt. Doch selbst aus einer orthodoxen Gemeinde wird schon heute niemand verwiesen, der unbeschnitten daherkommt.

Religionsfreiheit verstehen wir so, dass wir den in Auschwitz unterbrochenen Weg in die Moderne aus eigenem Antrieb und in freier Selbstbestimmung gehen, wie es seit den Tagen Moses Mendelssohns, des großen jüdischen Aufklärers, bei uns Tradition ist. Eine nichtjüdische Begleitung auf diesem Weg benötigen wir nicht; ihn nicht zu behindern, würde dieses Mal schon reichen.

Schutz für die Rituale

Dass das Grundgesetz die dazu nötige Freiheit durch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einschränke, ist ein Irrtum. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten nicht die Absicht, jüdisches Leben in Deutschland zu behindern – im Gegenteil! Einer von ihnen, der später zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde, rief meinem im Exil ausharrenden Großvater zu, er „begrüße die Rückkehr der Juden nach Deutschland, namentlich solcher Juden, die noch eine geistige Verwandtschaft mit Deutschland fühlen“. Hätte Theodor Heuss geahnt, welche Debatte wegen eines Landgerichtsurteils geführt werden würde, hätten er und die Mehrheit des Parlamentarischen Rates nicht nur die Religion, sondern auch ihre Rituale unter besonderen Schutz gestellt.

Die Beschneidung traumatisiere, rufen uns Psychologen und Ärzte ungefragt zu. Dass wir sie seit 5 000 Jahren praktizieren, hat noch vor Kurzem niemanden interessiert. Meinem Patensohn, den ich bei der Beschneidung in den Armen hielt, geht es gut, antworte ich, aber – klar – was sagt das schon? Also gestehe ich ein: Ja, ich bin beschnitten und ich bin traumatisiert. Ich bin traumatisiert von der massivsten Infragestellung jüdischer Existenz seit der Schoah. Der Artenschutz, den wir in der deutschen Nachkriegsgesellschaft genossen haben, ist dahin. Das Ausmaß der demgegenüber offenbarten Gleichgültigkeit schockiert mich. Sie war schon 1933 der Nährboden, auf dem unsere Mörder gewachsen sind. Die Mehrheit war nie antisemitisch. Sie war und ist gleichgültig. Ihr fehlt es an Empathie. „Juden misshandeln ihre Kinder,“ heißt ihre Sorge. Mich fröstelt.

Ich bin hier geboren. Ich liebe die Sprache und Kultur dieses Landes. Ich werde hier bleiben, egal wie die Sache ausgeht. Wo sonst soll ich leben? Es werden wieder bessere Zeiten kommen. Daran glaubte mein Großvater. Daran glaube auch ich.

Lorenz S. Beckhardt arbeitet als Fernsehjournalist in Köln.

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