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„Report einer Sommernacht in Kiew“ „Papa, Ballistik! Beschütz mich!“

9 min
Anatolii Schara

Rettungskräfte bergen einen Leichnam aus einem zerstörten Gebäude in Kiew

Unser Autor, der mit seiner Familie in Kiew lebt, schildert die Nacht eines russischen Angriffs mit Hunderten Drohnen und Raketen.

In den drei Jahren seit dem Überfall auf die Ukraine haben die Vereinten Nationen bis Februar 2025 den Tod von 12.654 Zivilisten bestätigt, unter ihnen 673 Kinder. Fast 30.000 Menschen wurden den Angaben zufolge verwundet, 1865 davon waren Kinder. Hinter diesen nüchternen Zahlen stehen Lebensgeschichten. Eine davon möchte ich erzählen. Es sind nur die Geschehnisse einer einzigen Nacht im Frühsommer. Eine Nacht von 1000. Eine Geschichte von Millionen. Aber aus ihnen setzt sich die Wirklichkeit dieses Kriegs zusammen.

***

Seit etwa einem Jahr greift Russland verstärkt kritische Infrastruktureinrichtungen an: Wasserspeicher, Kraftwerke, Umspannlagen. Die Ukrainer sollen des Wassers, des Stroms und der Kommunikation beraubt werden. Zwar bestreitet die russische Führung den absichtlichen Beschuss auch von Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten. Doch sowohl die ukrainischen Behörden als auch internationale Organisationen sprechen von gezielten Attacken und von Kriegsverbrechen der Russischen Föderation.

Im Sommer 2025 haben die Russen ihre Angriffe auch auf die Hauptstadt Kiew erheblich intensiviert und die Zahl ihrer Kampfdrohnen beträchtlich erhöht. In kombinierten Einsätzen feuern sie abends Hunderte von Drohnen gleichzeitig ab, um die Luftabwehrsysteme zu überlasten. Nachts dann schlagen sie mit ballistischen Raketen und neuen Drohnenwellen zu. Damit erschweren sie die ukrainische Luftabwehr zusätzlich.

Anatolii Schara

Anatolii Schara

Einer dieser kombinierten Angriffe fand vor einem Monat statt, in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni. Am Abend herrschte drückende Hitze, charakteristisch für den Kiewer Sommer. Die Luft war schwer, fast bewegungslos, als wäre sie vor dem drohenden Unheil erstarrt. Gegen 22 Uhr las ich in einem der viel benutzten Messengerdienste, dass Gruppen mit Dutzenden Kamikaze-Drohnen auf Kiew zusteuerten. Die Nachricht enthielt eine Karte mit roten Markierungen – jede davon bezeichnete eine Gruppe von fünf bis zehn Drohnen. Sie bewegten sich aus verschiedenen Richtungen auf die Hauptstadt zu, wie Schwärme mechanischer Raben, bereit, sich auf ihre Beute zu stürzen

Erfahrung und Intuition sagten mir, dass diese Nacht schwierig werden würde. Schon eine halbe Stunde später ertönten die Sirenen des Luftalarms. Ich saß mit unserem Hund noch draußen auf einer Bank. Heftiges Feuer von Browning-Maschinengewehren setzte ein, mit denen die ukrainische Luftabwehr versuchte, die anfliegenden Drohnen abzuschießen. Menschen rannten vorbei, um sich in ihre Behausungen zu flüchten. Bald war kaum mehr jemand auf der Straße.

Ein unverwechselbares monotones Surren

Plötzlich hörte ich das durchdringende Geräusch einer russischen Drohne im Anflug direkt auf unser Wohngebäude – ein unverwechselbares monotones Surren, das immer lauter wird, durch Mark und Bein dringt und das Herz schneller schlagen lässt. Ein Maschinengewehr feuerte auf die Drohne, traf sie aber nicht. Dann folgte eine Salve aus der Zwillingskanone eines deutschen Gepard-Flugabwehrpanzers. Die Drohne zerbarst in der Luft.

Auch ich war losgerannt, um mich im Torbogen des Gebäudes zu verstecken. Innerhalb der nächsten Augenblicke hörte ich die nächsten Drohnen über uns. Der Gepard begann erneut zu feuern. Eine Drohne wurde zerstört. Eine andere flog weiter Richtung Stadtzentrum.

In unserer Wohnung traf ich meine Frau an, die gerade unsere zwei Jahre alte Tochter Emilia schlafen gelegt hatte. In der bestimmten Erwartung, dass wir gerade nur den Beginn einer russischen Angriffswelle hinter uns hätten, holten wir zwei Winterdecken aus dem Schrank und breiteten sie im Flur aus. Das ist der sicherste Ort in der Wohnung, weit weg von den Fenstern. Eine halbe Stunde später setzte erneut Flugabwehrfeuer ein. Die Schüsse vermischten sich mit dem Heulen der Drohnenmotoren. Wieder waren Detonationen zu hören, mal näher, mal weiter entfernt.

Eine gewaltige Explosion

Die Drohnen wurden immer mehr. Das Schießen hörte nicht eine Sekunde auf. Es ist schwer zu beschreiben, was man fühlt, wenn man dieses Surren über seiner Wohnung hört. In solchen Momenten zieht sich das Herz zusammen bis zum maximal möglichen Grad.

Ich hörte, wie eine Nachbarin im Stockwerk sich ebenfalls im Flur einrichtete. Die alte Frau ist herzkrank. Jeder Angriff verschlechtert ihren Zustand. Immer, wenn ich sie sehe, stößt sie Flüche aus – auf alle Russen und auf diesen Krieg.

Nach einiger Zeit trat Ruhe ein. Wir schliefen ein, wurden aber bald wieder geweckt. Eine gewaltige Explosion in der Nähe ließ die Wände unserer Wohnung erbeben. Bei den rings um das Gebäude geparkten Autos gingen die Alarmanlagen los. Emilia wachte von dem Lärm auf, stellte sich in ihrem Bettchen auf die Füße und sagte verschlafen: „Papa, Ballistik. Beschütz mich!"

Ukrainische Kinder kennen sich aus mit russischem Kriegsgerät

Ukrainische Kinder kennen sich von klein auf aus mit russischem Kriegsgerät. Mir war, als bräche mein Herz in tausend Stücke. Instinktiv nahm ich Emilia in die Arme, während eine weitere gewaltige Explosion zu hören war, die tatsächlich vom Abschuss einer russischen ballistischen Rakete herrührte. Emilia griff nach meinen Schultern, drückte sie fest mit ihren kleinen Händen. Ich legte sie auf unser Bett. Sie rollte sich neben ihrer Mutter zu einer Kugel zusammen.

Erneut flogen Drohnen an, und wieder begann das Schießen. Meine Frau bat mich, Wasser zu holen. Im Flur hörte ich aus einer anderen Wohnung einen Nachbarn beten, laut und konzentriert auf jedes Wort. Die zitternde Stimme, die die Gebetsworte rezitierte, vermischte sich mit den Explosionsgeräuschen – eine surreale, apokalyptische Szenerie.  Ich bekam Gänsehaut.

Brennende Trümmer einer Drohne stürzten auf eine Reihe von Garagen

Der russische Luftangriff dauerte noch mehrere Stunden. Ich schloss alle Fenster, weil in der Stadt Brände ausgebrochen waren. Beißender Rauch lag in der Luft. Doch unser Hund Beauty, eine Englische Bulldogge, drängte nach draußen. Beauty ist vier, hat all die Schrecken des Kriegs gemeinsam mit uns erlebt. Beim Gassigehen fiel uns beiden das Atmen schwer, die Luft war geschwängert von Feuerdämpfen. Die Straße war leer, aus der Ferne waren noch vereinzelt Sirenen und Schüsse zu hören. Plötzlich rannte eine junge Frau mit einem kleinen Kind auf uns zu: „Wo ist die nächste Metrostation?" Ich wollte ihr gerade antworten, als urplötzlich ganz in unserer Nähe eine russische Drohne explodierte, getroffen von einer ukrainischen Rakete. Die brennenden Trümmer stürzten auf eine Reihe von Garagen.

Hysterisch packte die Frau meine Schultern und begann laut zu schreien, ihr Kind weinte. Ich versuchte ihr, zu erklären, dass die nächste Metrostation zehn Minuten zu Fuß entfernt liege, der Weg dorthin aber zu gefährlich sei, solange der russische Luftangriff andauerte. Ich schlug ihr vor, stattdessen den nächsten Schutzraum in der Nähe aufzusuchen oder wenigstens im Hauseingang zu warten. Die Frau, offenkundig unter Schock, konnte aber nicht klar antworten.  Ich nahm sie bei den Armen und führte sie zum Schutzraum. Dort suchte bereits ihr Mann nach ihr. Sie umarmten sich, und die Erstarrung der Frau begann sich ein wenig zu lösen.

Brandgeruch in der Luft

Als ich in unsere Wohnung zurückkehrte, erhielt ich die Nachricht eines ehemaligen Kollegen: Eine russische ballistische Rakete hatte ein Gebäude in der Nähe unseres früheren Arbeitsplatzes getroffen. Nach dem Frühstück beschloss ich, mit dem Auto hinzufahren. Allmählich verzog sich der Rauch von den Bränden der Nacht. Doch der Geruch lag immer noch in der Luft.

Zerstörtes Gebäude in Kiew

Zerstörtes Gebäude in Kiew

Die ganze Stadt wirkte niedergeschlagen. Es waren nur wenige Autos auf den Straßen, die Gehwege waren fast leer, an vielen Stellen lag von den Druckwellen der Explosionen zerbrochenes Glas. Als ich an meinem ehemaligen Arbeitsplatz ankam, sah ich Dutzende von Rettungsfahrzeugen. Auf dem Gelände herrschte geschäftiges Treiben zur Räumung der Trümmer. Um den zerstörten Gebäudeteil hatte Polizei bereits ein spezielles Absperrband gezogen und Schilder aufgestellt, damit die Aufräumarbeiten ungehindert vonstatten gehen konnten. In der Nähe des unversehrten Gebäudeteils war ein improvisierter Koordinierungsstab für alle Rettungsdienste eingerichtet. Etliche Menschen standen da, in Decken gehüllt, mit versteinerten, abwesenden Mienen, Pappbecher in den Händen.

Einige Dutzend Meter von ihnen entfernt gingen Suchtrupps ihrer Arbeit nach. Mit einem Spezialkran hoben Einsatzkräfte Betonplatten an. Zufällig hörte ich einen Retter, der in der Nähe mit einer speziellen pneumatischen Schere zum Durchtrennen von Armierungsstäben arbeitete, zu einem anderen sagen: „Die Rakete ist von oben eingeschlagen. Die Wucht des Aufpralls war so stark, dass mehrere Stockwerke einfach übereinander zusammenbrachen, auf die zweite Etage stürzten und alle mit sich rissen, die darüber wohnten."

Rettungskräfte bergen einen Leichnam aus einem zerstörten Gebäude in Kiew

Rettungskräfte bergen einen Leichnam aus einem zerstörten Gebäude in Kiew

Ein anderer Retter führte einen Suchhund. Die Zunge hing heraus. Das Tier atmete schwer, konnte sich kaum mehr bewegen. Schnauze und sein Fell waren mit Schmutz und Betonstaub bedeckt, die Augen rot vor Erschöpfung. Der Hund hatte die ganze Nacht unter den Trümmern nach Überlebenden unter den Trümmern gesucht. Der Hundeführer sagte seufzend zu einem Kollegen: „Er ist wie verzweifelt, wenn er statt eines Überlebenden eine Leiche findet. Danach frisst und trinkt er tagelang nicht.“

Bei den Rettungsarbeiten sind auch Psychologen im Einsatz. Sie versuchen, die Überlebenden zu beruhigen. Es gab zudem viele organisatorische Probleme, weil die Menschen Dokumente und Wertsachen verlieren. Plötzlich begann einer der Retter, der direkt an der Trümmerräumung arbeitete, laut zu rufen. Kollegen eilten zu ihm. Sie hatten einen menschlichen Körper gefunden. Vorsichtig holten sie ihn zwischen zerbrochenen Ziegeln und eisernen Armierungen hervor.

Spielzeug an einem zerstörten Gebäude in Kiew

Spielzeug an einem zerstörten Gebäude in Kiew

Ich beschloss, um das zerstörte Gebäude herumzugehen und es von der anderen Seite zu anzuschauen. Am Geländer um das Haus legte gerade ein Retter Spielzeug ab, das er gefunden hatte. Ein rosa Teddybär mit seinen Glasaugen starrte in den Himmel. Ich sah, wie die vom Ruß geschwärzten Hände des Mannes zitterten. Dann drehte er dem Geländer den Rücken zu und rutschte an der Brüstung entlang nach unten. Bereits sitzend nahm er seinen Spezialhelm vom Kopf, atmete mehrmals schwer und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Ein Kollege trat zu ihm. „Wir haben ein Kind gefunden“, sagte er tonlos und schüttelte den Kopf.

Wie später bekannt wurde, starben in dieser Nacht ein elf Jahre altes Mädchen und acht weitere Menschen, 34 wurden verwundet.

Es gibt im Umkreis von mehreren Kilometern um das zerstörte Haus keine militärischen Ziele, wohl aber einen Park, einen Fußballplatz, eine Kindereisenbahn und eine Bibliothek ebenfalls für Kinder. Dort hielt ich auf dem Heimweg kurz an. Im Fenster hing ein Plakat, das eine Veranstaltung für Kinder ankündigte. Sie sollte am nächsten Tag um 18:00 Uhr stattfinden.

Eine Woche später fuhr ich noch einmal an dem zerstörten Haus vorbei. Die Spielsachen lagen immer noch da. Niemand hatte es gewagt, sie zu entfernen. Stattdessen hatte jemand eine Kerze danebengestellt und Blumen abgelegt.

Emilia fragt jeden Morgen: „Es wird heute keine Ballistik geben, oder?" Die alte Frau über uns sagt: Trotz des beharrlichen Drängens ihrer Tochter, fortzugehen, werde sie bleiben. Sonst hätten die Russen ihr Ziel erreicht – sie aus ihrer Heimat zu vertreiben.


Der Autor

Anatolii Schara, geb. 1984, ist Big Data Ingenieur. Er hat zuvor als Journalist und Analyst für ukrainische Medien und Agenturen gearbeitet. 2017 war er für die Deutsche Welle tätig. Schara hat in Kiew unter anderem Englisch, Deutsch, Literatur, Wirtschaft und Datenanalyse studiert. Schara lebt mit seiner Frau Olena und seiner 2023 geborenen Tochter Emilia in Kiew. Für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ berichtet er seit Beginn des russischen Angriffskriegs in loser Folge aus der Ukraine. (jf)