Europa-Reise: PragEin nächtlicher Streifzug durch die tschechische Schwulenszene

Lesezeit 7 Minuten
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Seit 2011 gibt es die „Prague Pride“ – 2018 kamen 92 000 Besucher zur Parade. 

  • Eine Woche lang ist unser Reporter Jonah Lemm kurz vor der EU-Wahl durch Europa gereist, auf der Suche nach dem, was Europa zusammenhält.
  • Bei seiner sechsten und letzten Station in Prag erkundet er das Nachtleben dort. Billiges Bier, billigere Drogen und deswegen auch osteuropäische Härte im Nehmen?
  • Ein Streifzug durch die Schwulenclubs eines Landes, das deutlich liberaler ist, als man es von einem osteuropäischen Land vermuten würde.

Prag – Mit 22 Jahren habe ich mir noch nicht genau überlegt, wie ich mal sterben möchte. Es gibt da ja diverse Möglichkeiten. Ruhig und schmerzlos fände ich schön, einfach einschlafen, das wünscht man sich ja immer. Diese Kriterien nun angelegt und das Ausschlussverfahren schnell angewendet, bin ich mir mit einem Mal ziemlich sicher, dass in einem 200 Stundenkilometer schnellen tschechischen Taxi gegen eine Leitplanke knallen, eher rausfällt. Kann aber natürlich der freundliche, aber sich jeder Fremdsprache verweigernde Fahrer nicht wissen, während er mich vom Prager Flughafen in Richtung Innenstadt bleifußt.

Aufregende Anreise zur letzten Station 

Ich würde ihm auch gern sagen, dass mein Sicherheitsgefühl zudem etwas darunter leidet, dass er, wenn wir doch mal an einer Ampel halten müssen, während der Rotphasen permanent Solitaire auf seinem Handy spielt. Aber nun gut, fremde Kulturen, er wird schon wissen, was er da tut. Immerhin war ich noch nie in dieser Stadt oder gar in diesem Land und der Mann hinter dem Steuer, schwarze Lederjacke, grauer Kurzhaarschnitt, ernster Blick, sieht nicht so aus, als kenne er überhaupt dieses Feigling-Wort: Gefahr.

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Nach 20 Minuten und einem Betrag, den ich ob Währungs- und Inflationsunterschieden auf Anhieb nicht so genau bestimmen kann, setzt er mich am Hotel ab, mein Herzschlag gleicht sich langsam an einen dann eher lebensbefördernden Rhythmus an. Ich freue mich ein bisschen. Die letzte Station meiner Europa-Reise hat tatsächlich so aufregend begonnen, wie ich sie mir vorgestellt habe. Prag, das sind in meinem Kopf zwar hauptsächlich sehr schöne Gebäude, aber auch ein etwas wilderes, anarchistischeres Leben. Billiges Bier, billigere Drogen und deswegen auch osteuropäische Härte im Nehmen.

Merkel lieber als Putin

„Ist Österreich für dich auch Osteuropa?“, fragt Tomáš, Seitenscheitel, blaues Hemd und modische Brille, als ich ihm von meiner Hinfahrt erzähle und mich in Stereotypen verliere. „Natürlich nicht“, sage ich. „Du weißt, dass Tschechien quasi genau über Österreich liegt?“ Kurz nachdenken, Grenzen vor dem inneren Auge nachziehen. Ja, doch, weiß ich. Jegliches Kommunismus-Aber-Aber kopfschüttelt Tomáš einfach weg. „Wir sind mehr nach Westen als nach Osten gerichtet“, sagt er, „Also bitte steck’ uns nicht in die falsche Schublade. Die meisten hier mögen Merkel lieber als Putin.“ Ich nicke, das sehe ich ähnlich, wir bestellen also (dann doch klischeemäßig) sehr billiges Bier, um auf unsere erste Gemeinsamkeit anzustoßen. Sonst haben wir nicht all zu viel gemeinsam. Tomáš ist Ende 20, Anwalt und schwul. Wir haben uns über Facebook kennengelernt. Und er soll mir heute zeigen, wie das so ist, Schwulsein in Prag.

„Praque Pride“ als Parade des queeren Lebens

Die Idee war mir gekommen, als ich zwei Wochen vor meiner Reise auf folgende Geschichte stieß: Als 2011 das erste Mal die „Prague Pride“, eine große Parade des queeren Lebens, über die Straßen ziehen sollte, sagte ein Herr namens Václav Klaus, damals noch tschechischer Präsident, öffentlich: Er habe da ein Problem mit „Homosexualismus“. Damit meine er nicht, dass er gegen Homosexualität sei. Aber die sollte doch bitte nur toleriert und nicht gleich gefeiert werden. Als Reaktion stellten sich in kürzester Zeit quasi alle Politiker des Landes und die Zivilgesellschaft sowieso gegen Klaus. 5000 Menschen nahmen schließlich an der Premiere der „Prague Pride“ teil. Zu einer Art „Gegenparade“ von Konservativen kamen gerade einmal 200 Menschen. 

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Seit 2006 gibt es in Tschechien die Eingetragene Lebenspartnerschaft. 

Seitdem wächst die Parade von Jahr zu Jahr, die Schwulenszene ist ein so fester Bestandteil des Stadtlebens wie nie zuvor und auch die lebendigste innerhalb der ehemaligen Ostblock-Staaten – zu denen Tschechien ja nun tatsächlich zählt. Jedenfalls gibt es in Prag mittlerweile eigene Gay-Hotels, -Bars, -Clubs, -Stadtführer und auch ein eigenes Viertel: Vinohrady ist sehr grün, sehr prunkvoll, Art-déco-Häuser drängen sich hier aneinander, sehr gut aussehende Menschen sowieso.

Lampen in Regenbogen-Flaggen

Heute Nacht, das ist mein Plan, will ich hinter diese Fassaden, will ebenjene Schwulenszene kennenlernen, mit ihr die Nacht durchmachen. Weil es aber nicht so einfach ist, als Hetero und Ausländer den Weg in die richtigen Läden einer fremden Stadt zu finden, habe ich mir Tomáš als Fremdenführer organisiert. Er leitet „Charlie“, die queere Studentenvereinigung an der Karls-Universität. Zum Treffen hat er gleich noch ein paar Bekannte mitgebracht. Wir sitzen im „Q Cafe“, wo Lampen in Regenbogen-Flaggen von der Decke und Fotos mit viel nackter Haut an der Wand hängen. Laut meiner neuen Freundesgruppe DER Ort, um Leute kennenzulernen. Also lernen wir uns doch erst einmal kennen.

Neben Tomáš sind noch da: Jakub, der nur übers Wochenende zu Besuch ist, weil er sonst in der – Achtung – Generaldirektion der Europäischen Kommission für Kommunikationsnetzwerke, Inhalte und Technologie arbeitet. Dasa, die nicht viel sagt, aber ihre Hündin dabei hat. Die heißt Ari, eigentlich ein Männername, aber wo, wenn nicht hier, wäre das egaler. Jachym und Richard, die einfach nur nicht viel sagen. Und Daria, die eigentlich aus Russland kommt, dort aber aufgrund ihrer Homosexualität nicht bleiben wollte. Zu oft wurde sie beleidigt, in der Schule und danach, sagt sie. Lesbisch sein, das ginge in Russland nicht. Hier schon, deswegen studiert sie in Prag Deutsch.

Befürwortung der Homo-Ehe

Und so sitzen wir dort sehr nett zusammen, trinken und reden, reden und trinken. Ich erfahre, dass Tschechien eines der atheistischsten Länder Europas sei, dass auch hier Populisten erstarkt sind, aber die Mehrheit immer noch zur EU steht. Dass der Premierminister zwar korrupt sei, aber Schwulenrechte unterstütze und deswegen der Entwurf für gleichgeschlechtliche Ehe bald in die Erste Lesung im Parlament gehe. Immerhin: 51 Prozent der Bevölkerung befürworten die Homo-Ehe auch. Adoption gehe aber immer noch nicht als homosexuelles Paar, sondern nur als Einzelperson. Blutspende nur, wenn man einen Jahr keinen Sex hatte. Klingt dann doch alles sehr deutschland-ähnlich.

Ich werde warm, mag alle sehr, das kann eine gute Nacht werden. Mein Rückflug geht erst nachmittags, ich bin bereit, will gerade vorschlagen, den ersten Schnaps zu trinken und dann: bestellt Tomáš die Rechnung. Und mit ihm alle anderen. Eh, wie jetzt? Verabredet war doch „einen drauf machen“. Exzess, Party, wisst ihr das nicht mehr? „Alter, es ist Sonntag“, sagt Tomáš. „Ich muss morgen arbeiten.“ Die anderen nicken im Kollektiv. Alle sind müde. Also gehen wir. Hm. Mit Dasa kaufe ich mir noch eine Schachtel Zigaretten, wir rauchen eine Kippe an der Metro. Gehe ich halt alleine weiter, sage ich. Wohin nur? „Hier ist eigentlich alles ganz nett“, sagt Dasa, schaut mich kurz von oben bis unten an. „Geh’ nur nicht ins Factory. Dafür bist du nicht gemacht“

Das Factory, ergibt eine Google-Impuls-Suche, ist ein 400-Quadratmeter-großer Fetisch-Club. Es gibt dort Indoor-Käfige, Duschen, ein Verließ, einen Darkroom, Schaukeln und Dinge, die ich nicht in diesen Text schreiben kann. Und ich denke: Alles klar, ich gehe ins Factory.

Unterwegs zum Fetisch-Club Factory

Die Metro dorthin, verrät mir mein Handy, kommt schon in zwei Minuten. Schnell verabschiede ich mich von Dasa, lese online noch ein paar Rezensionen. Ich will ja auch wissen, auf was für Menschen ich gleich in dieser rohen Dunkelheit treffen könnte.

„Spaß, großer Club, das Personal, immer etwas los …“ – „Schrecklich. Der Laden stinkt und es hängen dort nur unangenehme Männer rum. „Danke für alles! Kuss-Smiley.“ Hm. Tja. Schlauer bin ich nicht. Eher nur noch ambivalenter, als vorher. Außerdem hört das Bier langsam auf zu wirken.

In der Metro denke ich dann, dass ich glaube, dass ich da vielleicht doch nicht hin möchte. Aber ein Rest Bier ist noch in meinem Blut und der sagt mir: Du bist der Reporter und jetzt hier. Es deine Aufgabe, ja quasi deine Bestimmung, für alle Leser da draußen stellvertretend, auch diesen kleinen Fleck Gesellschaft zu erkunden, herauszufinden, wie es dort zugeht, wer mit wem und überhaupt. Das interessiert alle total! Wer, wenn nicht du, soll diese Aufgabe wagen. Nicht minder als deinem eigenen Ethos bist du es doch schuldig, nun dort hinein zu gehen. Ich höre auf den Rest Bier.

Um 0.50 Uhr komme ich am Factory Club an. Und stelle fest, dass ich eine Google-Suche vergessen habe. Die nach den Öffnungszeiten.  

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