Fake News zu Tod in HamburgNichts als die Unwahrheit – Wie eine Falschmeldung sich verbreitet

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Vom Bornsteinplatz aus betrachten Passanten über die Elbe hinweg das Panorama der Hansestadt – im Hintergrund ist die Elbphilharmonie zu sehen.

Hamburger Stadtpanorama mit Elbphilharmonie.

Ein Student sei in Hamburg wegen Pro-Palästina-Posts getötet worden, hieß es Ende 2023 in sozialen Medien. Eine Falschmeldung – sie verbreitete sich dennoch.

Mehr als 170.000 Menschen folgen Lujain K. auf der Kurzvideo-Plattform Tiktok. Die junge Britin mit jordanischen Wurzeln nimmt ihre Follower mit in den Urlaub nach Barcelona oder zum Shopping ins Londoner Nobel-Kaufhaus Harrods. Meist sitzt sie aber einfach nur vor der Kamera ihres Smartphones und spricht. Über den Nahen Osten, über den israelischen Staat, den sie oft bloß verächtlich „zionistische Entität“ nennt, und über das Leid der Palästinenser.

Was die propalästinensische Influencerin am 3. Januar mit ihren Followern teilt, klingt ungeheuerlich: Sie berichtet vom Mord an einem palästinensisch-jordanischen Studenten in Hamburg. Mitstudenten hätten den 21-jährigen Mohammad B. mit zwei Schüssen in den Kopf getötet, weil er in den sozialen Medien über die Lage in Gaza geschrieben habe. „Der Grund, warum die deutsche Polizei seinen Tod nicht untersucht und warum deutsche Medien nicht darüber berichten, ist, dass seine Mörder Juden sind“, behauptet Lujain K.

Was nach einem riesigen Skandal klingt, ist jedoch erfunden. Eine Falschmeldung, kurz vor Weihnachten 2023 in die Welt gesetzt. Die Nachricht von dem angeblichen Hassverbrechen, begangen mitten in Deutschland und angeblich vertuscht von Polizei und Presse, geht schnell um die Welt. Verbreitet von Influencern, Medien mit Verbindungen zu islamistischen Terrororganisationen und propalästinensischen Aktivisten in Deutschland.

Zurückhaltende Kommunikation bei Selbsttötungen

Die Vorgeschichte der Falschmeldung beginnt am 19. Dezember mit einem echten, tragischen Ereignis. Polizei und Rettungskräfte werden an diesem Tag gegen 13.30 Uhr zu einem Einsatz im Hanseatic Gun Club gerufen, einem Schießclub unweit des Hamburger Hauptbahnhofs. Ein junger Mann soll sich auf dem Schießstand mit einer Schusswaffe selbst verletzt haben. Es handelt sich um den 21-jährigen jordanischen Studenten Mohammad B. Er wird in ein Krankenhaus gebracht und stirbt kurze Zeit später.

Das eingeleitete Todesermittlungsverfahren ist mehr als einen Monat danach noch nicht abgeschlossen. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen aber von einem Suizid aus. „Weder im Rahmen der Ermittlungen und der Zeugenbefragungen noch bei der Obduktion haben sich Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden oder einen politischen oder extremistischen Hintergrund ergeben“, teilt Liddy Oechtering, Pressesprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) mit.

Wegen des möglichen Nachahmereffekts berichten weder Polizei noch Medien im Regelfall über Selbsttötungen. Auch in diesem Fall gibt die Polizei zunächst keine Pressemeldung zu dem Fall heraus.

Gerüchteküche brodelt – Hamburger Polizei widerspricht und meldet „Fake News“

Vier Tage später beginnen jedoch Gerüchte und Falschmeldungen nicht nur in Hamburg für Aufregung zu sorgen. Zuerst berichten arabische Medien über den Tod des jungen Studenten, darunter auch der Nachrichtensender Al-Arabiya mit Sitz in Dubai. In einem Onlineartikel behauptet der Sender am 23. Dezember, Mohammad B. sei mit zwei Schüssen ermordet worden. Als Quelle dafür zitiert der Sender einen nicht näher genannten Verwandten. Auch in Deutschland verbreitet sich die Meldung von der angeblichen Ermordung Mohammad B.s an diesem Tag – vor allem durch Tweets des Journalisten und Aktivisten Tarek Baé. „Seine Angehörigen berichten, er sei wegen propalästinensischer Beiträge getötet worden“, schreibt Baé auf der Plattform X (früher Twitter). Die Polizei habe auf Nachfrage bestätigt, dass wegen Mordes ermittelt werde.

Baé schreibt auch, das jordanische Außenministerium habe ihm bestätigt, dass Mohammad B. mit zwei Schüssen getötet worden sei. Auf X bestätigt das Ministerium allerdings nur, dass es den Todesfall eines jordanischen Staatsbürgers in Hamburg weiterverfolgt. Wie die Staatsanwaltschaft Hamburg dem RND mitteilte, haben die Ermittlungen zudem nur eine Schussverletzung ergeben, nicht zwei.

Auch eine Person, die sich als Cousine des verstorbenen Studenten ausgibt, meldet sich auf X zu Wort. Mohammad B.s Uni-Freunde hätten seiner Mutter mitgeteilt, dass „er von einem anderen Studenten seiner Universität mit zwei Kopfschüssen hingerichtet“ worden sei, behauptet sie.

Die Hamburger Polizei widerspricht diesen Meldungen bereits am Abend des 23. Dezember und bezeichnet sie als „Fake News“.

Doch die Verbreitung der Falschmeldung lässt sich nicht mehr stoppen: Zahlreiche arabische Medien geben sie offenbar ungeprüft wieder. „Jordanischer junger Mann in Deutschland wegen propalästinensischer Beiträge getötet“ titelt das palästinensische „Quds News Network“ auf Englisch. Das Medium steht der Hamas und dem „Palästinensischen Islamischen Dschihad“ nahe. Zwei Tage später verbreitet auch der panarabische Nachrichtensender Al Mayadeen, der als Sprachrohr der Hisbollah und des iranischen und syrischen Regimes gilt, die Behauptung vom Mord an Mohammad B. auf seiner Website. Zu diesem Zeitpunkt hat die Hamburger Polizei bereits mehreren Journalisten bestätigt, dass der 21-Jährige tatsächlich tot ist – aber wegen eines möglichen Suizids ermittelt wird und es keine Hinweise auf Fremdverschulden gibt. Das erklärt die Behörde später auch auf X.

Tarek Baé räumt ein, dass er einen Fehler gemacht hat: Er löscht seinen ursprünglichen Tweet und erklärt am 25. Dezember, dass es sich bei der vermeintlichen Bestätigung von „Mordermittlungen“ durch die Hamburger Polizei um ein Missverständnis gehandelt habe.

Influencerinnen aus Großbritannien und USA schüren Skepsis

Spätestens hier hätte die Geschichte der vermeintlichen Skandalnachricht vom politischen Mord in der Hansestadt beendet sein können. Doch es kommt anders.

Sind Falschmeldungen erst einmal in der Welt, lassen sie sich oft kaum noch stoppen – auch wenn sie längst widerlegt sind. Nicht nur die Familie des Studenten in Jordanien will offenbar nicht glauben, dass ihr Angehöriger keinem Hassverbrechen zum Opfer gefallen ist.

Die in mehreren deutschen Städten aktive antiisraelische Aktivistengruppe „Palästina Spricht“ trägt die Behauptungen von der Ermordung auf Facebook und Instagram weiter: „Der Versuch, das als Fake News abzutun, gefolgt von der Andeutung eines Selbstmordes, beleidigt unsere Intelligenz“, heißt es dort.

Die Falschmeldung breitet sich in der arabischen Welt aus – aber auch in den USA und Großbritannien. Die Britin Lujain K. ist nur eine von Dutzenden propalästinensischen Influencerinnen und Aktivisten, die sich vor allem auf Tiktok zu dem Tod von Mohammad B. zu Wort melden. Eine junge Frau aus Texas wirft Deutschland und Israel in einem Video vor, in dem Fall gemeinsame Propaganda zu betreiben.

Maureen J., eine Beauty-Influencerin und propalästinensische Aktivistin mit mehr als 167.000 Tiktok-Followern aus Arizona, behauptet in einem achtminütigen Video gar, Mohammad B. sei von der deutschen Polizei getötet worden.

Antisemitismus auf Telegram – Weltverschwörung vermutet

Damit nicht genug: Auch eingefleischte Hardcore-Antisemiten nutzen den Tod des 21-Jährigen für ihre Propaganda. Der US-amerikanische Rapper und Judenhasser Jonathan Azaziah schreibt in einem Telegram-Kanal, die wahren Schuldigen hinter dem angeblichen Mord an „Märtyrer Mohammad“ seien „die jüdischen Medien und die jüdische Lobby“. Die deutsche Regierung sei „zionistisch besetzt“ und deutsche Polizisten „Funktionäre Israels“. Der tragische Suizid eines jungen Studenten wird zum Teil einer „jüdischen Weltverschwörung“ erklärt.

Die Behauptung vom vertuschten Mord in Hamburg macht sich nicht nur im Internet breit, wie sich Mitte Januar in Berlin-Neukölln zeigt. Die Sonnenallee, die durch den Stadtteil führt, war im vergangenen Jahr mehrfach wegen israelfeindlicher Proteste und Ausschreitungen in den Schlagzeilen.

Die Straße ist durch zahlreiche arabische Restaurants, Cafés und Lebensmittelgeschäfte geprägt. Jetzt sind dort fast einen Monat nach dem Tod von Mohammad B. mehrere Plakate mit seinem Gesicht aufgetaucht. „Hamburger Student erschossen“ steht in großen Lettern darauf, und außerdem: „Polizei ignorierte Morddrohungen und vertuschen die Straftat“. Darauf, dass der Student vor seinen Tod tatsächlich bedroht worden sei und das bei der Polizei angezeigt habe, hat die Hamburger Staatsanwaltschaft übrigens ebenfalls keine Hinweise, wie Sprecherin Liddy Oechtering erklärt.

Kostbare Zeit vergeht – Kommunikation der Polizei 

Wie hätte sich die Verbreitung dieser Falschmeldung schneller stoppen oder zumindest eindämmen lassen? Vieles steht und fällt in solchen Fällen mit dem Vorgehen der Behörden. Dass die Polizei zunächst pauschal von „Fake News“ sprach und erst später klarstellte, dass es wohl einen Suizid gab, macht die Aufklärung nicht leichter. Doch leicht ist die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei in Fällen mutmaßlicher Selbsttötung ohnehin nie.

Kimberly Nicolaus vom Faktencheck-Team des Recherchezentrums Correctiv sieht die Polizei hier mit einem grundsätzlichen Dilemma konfrontiert: „Es ist wichtig, dass sich die Polizei erst dann öffentlich äußert, wenn die Faktenlage klar ist“, sagte sie. Dafür müssten Ermittlungen abgeschlossen sein. Gleichzeitig vergeht dadurch kostbare Zeit: „Wenn eine Falschmeldung bereits lange kursiert, erreicht die Korrektur oft nur noch wenige“, sagt Nicolaus.

Das zeigt sich auch in diesem Fall: Der Tweet, in dem die Polizei klarstellt, dass sie von einem Suizid ausgeht, wurde bislang rund 185.000 Mal angezeigt, Beiträge, in denen die Falschbehauptung vom Mord an Mohammad B. verbreitet wird, wurden dagegen millionenfach gesehen. Auf der Videoplattform Tiktok ist es für Behörden – und Journalisten – noch schwerer, gegen die Falschmeldungsflut anzukommen. Dort bleiben die Behauptungen und Anschuldigungen von Influencerinnen wie Lujain K. und Maureen J. meist gänzlich unwidersprochen.


Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen

Kontakte | Hier wird Ihnen geholfen Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter: Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote.

Telefonseelsorge – Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de Kinder- und Jugendtelefon – Das Angebot des Vereins „Nummer gegen Kummer“ richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention – Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de Beratung und Hilfe für Frauen – Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützen werden Betroffene aller Nationalitäten rund um die Uhr anonym und kostenfrei unterstützt. Psychische Gesundheit – Die Neurologen und Psychiater im Netz empfehlen ebenfalls, in akuten Situationen von Selbst- oder Fremdgefährdung sofort den Rettungsdienst unter 112 anzurufen. Darüber können sich von psychischen Krisen Betroffene unter der bundesweiten Nummer 116117 an den ärztlichen/psychiatrischen Bereitschaftsdienst wenden oder mit ihrem Hausarzt Kontakt aufnehmen. Außerdem gibt es in sehr vielen deutschen Kommunen psychologische Beratungsstellen.

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