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Flüchtlinge in SyrienWelthungerhilfe: „Die Leute verheizen alles“

Lesezeit 3 Minuten
Syrer_fliehen_vor_Armee

In den Provinzen Aleppo und Idlib fliehen Abertausende Syrer vor den vorrückenden Truppen der syrischen Armee in Richtung türkische Grenze. 

Frau Kühnle, wie ist zurzeit die Lage im türkisch-syrischen Grenzgebiet?

In der Zeit vom 1. Dezember 2019 bis 30. Januar 2020 sind etwa 351.000 Syrerinnen und Syrer aus der Region südlich der Provinzhauptstadt Idlib nach Norden in Richtung türkisch-syrisches Grenzgebiet geflohen. Weitere 165.000 Menschen flohen vor den vorrückenden syrischen Truppen und russischen Luftangriffen aus der östlichen Provinz Aleppo in Richtung Nordwesten. 80 Prozent der Geflüchteten sind Frauen und Kinder. Die Mehrzahl der Menschen flieht in die nördlichen Gebiete der Provinz Idlib wie beispielsweise Dana und Maaret Tamsrin oder in die von der Türkei kontrollierten Gebiete Afrin und A’zaz. Die türkisch-syrische Grenze ist aber ja seit langem geschlossen. Die Schutzsuchenden haben die syrische Armee im Rücken.

Zur Person

Jessica Kühnle (32) ist seit Herbst 2018 für die Welthungerhilfe in Gaziantep im Einsatz. Die türkische Millionenstadt liegt etwa 50 Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt. Von Gaziantep organisiert und koordiniert die Organisation Nothilfe-Aktionen und weitere Hilfsprojekte für syrische Bürgerkriegsopfer. (ps)

Das heißt, der Druck auf die geflüchteten Menschen steigt weiter?

Ihre Lage ist heikel, weil ihnen das Grenzgebiet in dem sie sich aufhalten, kaum Infrastruktur bietet. Die Familien kampieren häufig einfach am Straßenrand, unter Plastikplanen. Die Region ist aber sowieso schon überlastet aufgrund der hohen Anzahl von Geflüchteten im vergangenen Jahr. Bereits im Zeitraum von April bis August 2019 waren 400 000 Syrer dorthin geflohen.

Jessica Kühnle_Welthungerhilfe

Jessica Kühnle ist seit Herbst 2018 für die Welthungerhilfe in Gaziantep im Südosten der Türkei im Einsatz.

Und über die Grenze schaffen es die Menschen nicht?

Es gibt Berichte, dass das immer mal wieder Einzelnen gelingt, aber da gibt es keine verlässlichen Angaben. Klar ist, dass die Zahl gering ist.

Wie unterstützt die Welthungerhilfe die Flüchtlinge in der Region?

Wir haben über die Grenzübergänge Bab Al Salam in Kilis und Bab Al Hawa in Reyhanli Zugang zu den Flüchtlingen. Mit Hilfe unserer nationalen Partnerorganisationen in Syrien bringen wir Mehl und andere Lebensmittel über die Grenze.

Welthungerhilfe_Brennstoffverteilung_Syrien

Die Welthungerhilfe verteilt über Partnerorganisationen auch Brennstoff in Nordsyrien – wenn es die Lage zulässt.

Und die können Sie trotz der anhaltenden Kämpfe verteilen?

Das geht leider nicht immer. Wir wollten im Januar zum Beispiel westlich von Aleppo Lebensmittelgutscheine im Wert von je 50 US-Dollar an 700 Familien verteilen. Das mussten wir wegen der Sicherheitslage unterbrechen. Ebenfalls westlich von Aleppo wollten wir eine zerstörte Bäckerei aufbauen, aber auch das mussten wir aufgrund der Luftangriffe stoppen. Insgesamt sind es 30.000 Menschen, denen wir zur Zeit nicht helfen können.

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Für wie lange kann sich eine Familie mit so einem 50-Dollar-Gutschein ernähren?

Das reicht für einen Monat. Allerdings sind die Preise für Lebensmittel und Treibstoff in Syrien zurzeit so hoch wie noch nie. Das syrische Pfund hat extrem an Wert verloren. In der Folge ist der Brotpreis um bis zu 50 Prozent gestiegen. Meine Kollegen in Syrien berichten mir, dass sie an manchen Tagen gar nicht mit ihren Fahrzeugen aufbrechen konnten, weil es kein Benzin gab. Auch Heizöl ist knapp. Die Leute verheizen alles, auch alte Kleidung und Plastik. Das ist natürlich gefährlich wegen der giftigen Dämpfe – insbesondere für die Kinder. Und für diese Tage sind in der Region Dana Minustemperaturen vorhergesagt.